Jüdisches Kammerorchester in München: Ausgerechnet Jazz

Die Münchner Kammerspiele haben derzeit eine ausgewachsene Auslastungskrise. Außer, wenn das jüdische Kammerorchester auftritt.

Ein Orchester bei einem Konzert

Das Jüdischen Kammerorchester München Foto: Robert Brembek

Bis auf den letzten Platz. Das ist ein Satz, den in den vergangenen Monaten nicht viele schreiben konnten. Corona hat unsere Gewohnheiten, Kultur zu erleben, verändert. Nachts fehlt auf Münchens Straßen der altersmäßige Mittelbau, Studenten sind unterwegs und Menschen im Rentenalter.

Ü-30 bis U-65 aber arbeitet remote, lässt liefern und schaut dann noch irgendwas daheim, nicht live, nicht als soziales Happening. Eher einen Livestream aus der MET als das Lustspiel im lokalen Theater. Schon gut: eher Netflix.

Besonders spüren das bundesweit die Bühnen, in München zum Beispiel die Kammerspiele. Mit einem neuen Ensemble ist die neue Intendantin Barbara Mundel mitten in der Coronapause an- und aufgetreten, radikal divers, radikal innovativ, radikal rebellisch. Mundel umgibt sich mit Menschen, die bunter, schneller, lauter denken als der Rest und oft genug auch weiter nach vorne – etwa mit der Dramatikerin Sivan Ben Yishai, der Regisseurin Pınar Karabulut, dem Autor Nuran David Calis –, und sie hat den Mut, dies in München zu tun.

Nur das Publikum blieb aus. 56 Prozent Auslastung und einen Fehlbetrag von 1,2 Millionen Euro vermerkt der Jahresabschluss 2021/22 für das Theater, schreibt die Lokalpresse (Quelle: Münchner Abendzeitung). Für 2023 würde ein weiteres Minus von 915.000 Euro prognostiziert. Unvorstellbare Zahlen sind das, eine knappe Million. Eine Krisensitzung mit der Stadt war die Folge.

Und doch. Bis auf den letzten Platz ist der große Saal der Kammerspiele gefüllt, als das jüdische Kammerorchester „Jewish Jazz“ aufführt und das Ensemblemitglied Jelena Kuljić zum Höhepunkt eines grandiosen Konzerts mit samtiger Stimme Gershwin-Lieder intoniert.

Ein bunter Musikertrupp

Ausgerechnet Jazz, ausgerechnet ein Kammerorchester holt die Münchner aus dem Ausnahmezustand in die Maximilianstraße. Dass auch die bayerische Komödie „A scheene Leich“ nach Gerhard Polt und den Well-Brüdern bis März ausverkauft ist, verwundert dagegen schon weniger.

Daniel Grossmann hat das Orchester in seinen Zwanzigern gegründet, es ist ein bunter Trupp aus „fest-freien“ Musikern, wie er sagt. Keiner ist festangestellt, das Ensemble formiert sich von Auftritt zu Auftritt – doch die meisten kommen immer wieder. Die erste Geige begleitet das Orchester seit 15 Jahren. Einmal monatlich spielen sie in den Kammerspielen.

Saxofonist Koryun Asatryan ist für den Jazz dazugekommen. Während der Generalprobe irgendwo in Milbertshofen sitzt er lässig halb auf einem Tisch und wartet. Auf der Bühne der Kammerspiele läuft er zur Hochform auf. Das Orchester habe es genossen, mal Stücke zu spielen, die nicht klassisch sind, erzählt Grossmann. Diese Musik, meint er, geht „sehr direkt ins Herz“.

Ja, der ganze Abend geht ins Herz. Und das, obwohl das Programm nicht leichtgängig ist: Zwischen die Jazz-Suite von Shostakovich, die Hot-Sonate von Erwin Schulhoff und Songs von George Gershwin, darunter „Fascinating Rhythm“ und „The Man I love“, hat Grossmann eine Orchster-Jazz-Suite von Bohulav Martinū gepackt.

Das Publikum ist hin und weg

Aber das Publikum ist nicht nur anwesend, es ist hin und weg. Das Ensemble interpretiert die Stücke mit einem Leichtigkeit, die vielen momentan fehlt: dem Klang zugewandt, dem Moment zugewandt, dem Leben zugewandt.

Wer sich ernsthaft fragt, wofür es sich lohnt, das Haus zu verlassen, bekam eine Antwort: nicht für Perfektion, sondern für Begeisterung. Nicht für die „Nummer sicher“, sondern für Leidenschaft. Ohne diese blauen Nächte, in denen Menschen zusammenkommen und sich mitreißen lassen, würden wir irgendwann in einer Welt aufwachen, in der eine Nachfolgeversion von ChatGBT perfekte Dramaturgien und Harmonien entwirft, die KI intoniert – ohne Charme allerdings, ohne Seele. Und dann garantiert: ohne Publikum im Saal.

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