Klappe auf

PIRATEN II Überall in Deutschland zieht die Piratenpartei bei Wahlen in die Landtage ein – dabei hat die sehr junge Partei noch gar kein klares Profil. Im Januar 2006 entstand in Schweden die erste Piratenpartei. Einige Monate später zogen deutsche Internetaktivisten nach und gründeten in Berlin eine Schwesterpartei. Seitdem lässt sich eine Erfolgsgeschichte beobachten, die sich auch in Wahlergebnissen niederschlägt– zuletzt knapp acht Prozent in NRW: Auf einmal werden Menschen zu Parteimitgliedern, die zuvor einen großen Bogen um alles machten, was ansatzweise mit dem etablierten Parteiensystem zu tun hatte. Warum? Wir haben mit einer Reihe von Piraten gesprochen

Die Gespräche führten Anna Hunger und Sandro Mattioli

Nickname: Tiffi

Stefanie Kruse ist zwar überlegt, doch bei den Piraten hat sie nicht lange gefackelt: Bei ihrem ersten Stammtischbesuch unterschrieb sie gleich den Aufnahmeantrag. Die Piraten haben nun ein Mitglied mehr, das umtriebig ist – und wie.

Es war die Neugierde, die Stefanie Kruse aus Esslingen in die Arme der Piraten trieb. Ihr Bruder hatte der Partei in Schleswig-Holstein, ihrer Heimat, unzählige Stunden geschenkt, hatte im Jahr 2009 Unterschriften für die Zulassung zur Europawahl gesammelt, war immer wieder zu den Stammtischen gegangen und berichtete wieder und wieder, so viel, dass Stefanie Kruse wissen wollte, was es mit den Piraten auf sich hatte.

Zunächst ließ sie sich an einem Stand in der Esslinger Altstadt informieren, dann ging sie zu dem Stuttgarter Treffen des damals noch kleinen Haufens. „Ich hab mir gedacht, das macht einen halbwegs seriösen Eindruck, es könnte Spaß machen und kostet auch nur 36 Euro im Jahr“, lautet das Resümee ihrer ersten Begegnung mit den Piraten. Kruse unterschrieb an Ort und Stelle einen Aufnahmeantrag und wurde zur Piratin. „Der Organisator des Stammtischs fand das etwas seltsam“, sagt sie mit einem Lächeln im Gesicht.

Die Partei hatte von da an ein sehr engagiertes Mitglied mehr in ihren Reihen. Stefanie Kruse betreut die Pressearbeit des Esslinger Stammtisches, war Politische Geschäftsführerin,bot Rhetorikkurse an, organisierte den Internetauftritt und Informationsmaterial und kümmerte sich um die Mitgliederwerbung. Oft hängen sich Parteineulinge so in die Arbeit rein, weil sie einen Posten anstreben und Karriere machen wollen. Stefanie Kruse ist das nicht wichtig. „Ich will gar nicht in der ersten Reihe stehen“, sagt sie. Ihre Arbeit als Ingenieurin im Sondermaschinenbau ist ihr lieb und teuer; eine Politkarriere strebt sie nicht an.

Sich politisch zu engagieren war dennoch schon immer ein Thema in ihrer Familie. Ihr Vater war früher Mitglied in der FDP. Auch Stefanie Kruse ging noch vor ihrem Abitur zu einem Parteitreffen in der Nachbarschaft: Eine neue Gruppe der Jusos sollte entstehen. „Okay, hier ist ja auch nichts los“, war das Fazit damals. Wäre sie auf eine aktive Gruppe gestoßen, wer weiß, vielleicht würde sie sich dann heute für die SPD engagieren. So aber sollte es noch ein paar Jahre und eine neue Partei brauchen, bis sich Stefanie Kruse wirklich engagierte. „Hier haben viele Leute einen technischen Hintergrund“, sagt sie, „daher haben viele auch das Bedürfnis, pragmatisch an die Sache heranzugehen.“ Wie viele Piraten führt sie den Wunsch an, das Zusammenleben in einer Gesellschaft gestalten zu wollen.

Und wie viele Piraten hat sie Interessen an Dingen, die andere kaum interessieren: Bei ihr sind es Fremdsprachen. Nicht Englisch, Französisch und Latein, die sie an der Schule gelernt hat. Und auch nicht Dänisch, das in ihrer Heimat an der Ostsee viele lernen. Kruse hat Japanisch gelernt – und Altgriechisch. Vor allem Sprachen, die heute nicht mehr gesprochen werden, haben es ihr angetan. Da komme das technische Interesse durch, das sie auch zu ihrem Beruf brachte. „Ich bin ein großer Grammatikfan. An tote Sprachen geht man ganz anders heran, wenn man die lernt“, sagt sie. Da beginne man nicht wie sonst immer mit „Hallo, mein Name ist Stefanie, wie heißt du?“.

Nickname: Banshee

Er musste weggehen aus Stuttgart, um seine Heimat neu lieben zu lernen. Zehn Jahre in Köln, ein Leben inmitten von Menschen aus aller Herren Länder, Spaß und Abwechslung – und dennoch wuchs der Wunsch, ins Ländle zurückzukehren. Aus Liebe zu seiner Stadt kandidiert Harald Hermann nun sogar für den OB-Posten in Stuttgart.

Von einem Piraten-Politiker erwartet man eine mobile Internet-Komplettausstattung, Smartphone, Twitter-Account, Blog, allzeit bereit, allzeit online. Hat Harald Hermann nicht. Von einem Oberbürgermeisterkandidaten erwartet man Politiker-Sprechblasen. Ich will … Wir werden … Es muss endlich … Macht Hermann nicht. Harald Hermann ist anders. Und er will das genau so. Zum Pressetermin kommt der 52-jährige Stuttgarter im schwarzen Sakko. Das knallorangene Piratenlogo leuchtet unter der Jacke hervor. „Ich hatte jahrelang das Gefühl, Politiker machen nur Mist“, sagt er, „Parteipolitik hatte für mich etwas Abstoßendes.“ Und den Namen Piratenpartei fand er „irgendwie blöd“. Doch dann kam der Wahlomat und machte aus Harald Hermann – ein Parteimitglied.

Der Wahlomat ist eine nützliche Seite im Internet. Die Bundeszentrale für politische Bildung speist darin die Wahlprogramme der einzelnen Parteien ein. Der Computer fragt einzelne Standpunkte ab und berechnet am Ende, welche Partei zu einem passt. „Üblicherweise kam ich so auf 60 Prozent Übereinstimmung“, sagt Harald Hermann. Doch dann, vor der Europawahl 2009, spuckte das System 96 Prozent Übereinstimmung aus. 96 Prozent! Dabei kannte Hermann die ihm empfohlene Partei nicht einmal. Er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen, und steuerte das nächste Piratentreffen an.

Der Wahlomat wies ihm den Weg zu Gleichgesinnten. Damit nahm der Rechner ein weiteres Mal eine wichtige Rolle im Leben des EDV-Experten ein. Nur wusste Hermann das damals noch nicht. Als Student hatte er sich in seiner Freizeit mit der damals neuen Technik beschäftigt, hatte Programme geschrieben. Bald wurde daraus ein Nebenjob, schließlich sein Hauptbroterwerb. Inzwischen betreut er für die Stadtverwaltung von Stuttgart die Servercomputer und kann „mehrere Programmiersprachen fließend“. In seiner Freizeit bleibt der Rechner nun aber oft aus: Er liest lieber ein Buch oder geht spazieren. Manchmal nennt er sich selbst den „Offline-Piraten“.

„Ich bin bei den Piraten auf eine Welt gestoßen, die so funktioniert wie ich“, sagt Hermann mit einem Lächeln im Gesicht. Diese Welt ist zwar keine Computerwelt, aber sie ist von Computern geprägt. Kurz charakterisiert herrscht in dieser Welt die Ratio über das Gefühl, es wird diskutiert, und es geht um Sachargumente und Lösungen, Dogmen sind verpönt und alle offen für andere Ansichten. „Als EDVler ist man gewöhnt, sich zu fragen, ob etwas funktioniert oder nicht. Wenn man diese rationale Denkweise verinnerlicht hat, hält man Probleme auseinander und zerlegt sie, behält dabei aber trotzdem im Kopf, das dass, was man da vor sich hat, ein komplexes System ist.“

Dieses Denken würde Hermann gerne auch in der Politik etablieren. „Wenn ich zum Bürgermeister gewählt würde, dann würde ich die Verwaltung piratiger machen“, sagt er. Also lösungsorientiert, ohne Parteipolitik. Dass Hermann Bürgermeister wird, erwartet er trotz aller Euphorie um die Piraten nicht. „Es geht darum, den Leuten klarzumachen, dass wir so etwas können. Ein zweistelliges Ergebnis wäre eine Traumzahl.“ Manchmal hat die Ratio etwas Motivierendes, selbst wenn die Situation wenig Erfolg verspricht. „Es ist nicht unmöglich, gewählt zu werden“, sagt Hermann. Eine Limes-Geschichte sei das, eine Frage der Mathematik.

Nickname: KrauseMi

Michael Krause ist Vollblutpolitiker. Einer voller Idealismus und Ideen. Er mag keine Fraktionszwänge, keine verstaubte Parteipolitik, er will etwas schaffen. Und auch ein bisschen Karriere machen. Bis vor Kurzem war er bei der Linken. Jetzt ist er Pirat, weil er findet, dass sich die Linke in seinem Landkreis nur um sich selbst dreht.

Als die Wende kam, war er ein bisschen stinkig, weil er in diesem Jahr endlich das rote Jungpionier-Halstuch bekommen hätte, das er sich so sehr wünschte. Michael Krause, Neu-Pirat, 33 Jahre alt, Industriekaufmann, ist in der DDR geboren, in Eisenhüttenstadt. Seine Eltern hatten Arbeit, er selbst oft Ferienlager und eine schöne Kindheit, sagt er. Die Tragweite der Indoktrination der DDR begriff er erst später, aber als Elfjähriger erlebte er, wie die Wende seine Eltern arbeitslos machte, wie immer weniger Geld da war für die Familie, wie die sich verschuldete und er zum Geburtstag plötzlich keine Geschenke mehr bekam. Die Eltern versanken in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, irgendwann stand der 15-Jährige in einer Bankfiliale und ließ sich beraten, wie er seine Familie aus der kniffligen Finanzlage befreien könnte. Arbeiten war eine Möglichkeit, aber er ging ja noch zur Schule. So hat er angefangen, sich für Politik zu interessieren und für das soziale System.

Mit 18 ließ er sich für die PDS in den Eisenhüttenstädter Gemeinderat wählen. Er ackerte sich durch Gemeinderatsvorlagen und fand irgendwann, dass Politik ganz gut zu ihm passte. Er gründete eine regionale Jugendgruppe, später gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des linken Jugendverbands Solid, war Mitglied im Länderrat Brandenburg. Er arbeitete zeitweise mit den Jusos zusammen, aber, sagt er, er habe schnell gemerkt, dass sie immer nur nach Parteienkalkül agierten und sich weniger für die Sache interessierten. Da ließ er es bleiben. Jugendliche, findet er, sollen Begeisterung für Politik entwickeln, sich engagieren, ohne an eine Partei gebunden zu sein. Auch heute, betont er, sei er gegen Fraktionszwang und Parteidisziplin, weil dadurch so viele gute Ideen flöten gingen.

2008 zog er nach Mühlhausen-Ehingen unterm Hohentwiel, nicht weit entfernt vom Bodensee. Dort wurde er ein „Linker“, weil er mit der SPD nach Hartz IV nichts mehr anfangen konnte, ihm die Grünen zu schwarz waren und ihm die Linke nach der PDS am Nächsten stand.

Er trat mit einer Menge Ideen im Gepäck an, aber irgendwie, sagt Krause, habe sich die Partei auf kommunaler Ebene mehr mit sich selbst beschäftigt als mit allem anderen. Er wollte aktiv sein, für günstigeren öffentlichen Nahverkehr, für verbilligte Tickets für Arme und Studenten. „Aber“, sagt er, „die meisten anderen Parteimitglieder waren es nicht.“

Zur Landtagswahl im vergangenen März traf er zum ersten Mal auf Piraten. Da habe er sie aber kaum wahrgenommen, weil er zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen sei, mit Stammtischen und Infoständen und Wahlkampf an sich. Die Linke hievte ihn später in den Kreistag. Vor zwei Monaten trat er aus der Partei aus und wurde Pirat. Sein Kreistagsmandat hat er behalten.

Die Grundwerte der Piraten würden denen entsprechen, mit denen er vor 15 Jahren Politik gemacht habe, sagt Michael Krause. Mitbestimmung, Meinungsfreiheit, Begeisterung, was reißen, anstatt rumzusitzen und zu warten, bis von selber was passiert. Genau seins, weil die Piraten von allem ein bisschen haben, eine bunte Mischung aus allen mögliche Strömungen und Tendenzen seien, ideal für einen, der für sich beansprucht, immer mehr für Ideen zu stehen als für Parteien.

Einige Linke warfen ihm vor, er hänge sein Fähnchen nach dem Wind, er sei ein Karrierist. Das findet er „lächerlich“. Einige Piraten fanden, ein „SEDler“ habe bei den Piraten nichts zu suchen. Da lacht Michael Krause nur, weil er von Kommunismus nichts hält und findet, wer Geld verdient, solle sich was leisten können.

Krause begreift sich als Ideengeber, vielleicht ein bisschen als potenziellen Kopf der Piraten in seiner Ecke des Bodensees, zumindest als einen, von dessen politischer Erfahrung sie profitieren können. Sie sind das Gefäß, er könnte den Inhalt mitgestalten. Das klingt schon nach Karriere? Nein, sagt er, er sei weder scharf auf Geld noch auf Posten. „Es ist die Vollendung meiner Wünsche und Träume, wenn ich es nach oben schaffe.“ Weil man da eben manchmal doch mehr erreichen kann als unten