Die Welt bin ich

Ihr Herz schlägt für Menschen ohne Lobby: Seit dreißig Jahren engagiert sich Mahide Lein für noch unentdeckte Künstlerinnen, für Homoaktivisten und Menschen aus Afrika

VON CHRISTINA KRETSCHMER

Mahide Lein verspätet sich etwas. Ihr Praktikant hält die Stellung in dem kleinen Büro ihrer Agentur „AHOI Kunst- und Kulturvermittlung“ in Berlin-Kreuzberg und bietet höflich einen Platz an. In dem Ladenlokal laufen alle Fäden zusammen, die Mahide Lein in den vergangenen dreißig Jahren gesponnen hat. In ihrer Künstlerkartei findet sich viel Worldmusic, hauptsächlich aus Afrika, aber auch Queer, Transgender und „Frauenstimmen“. Eine Mischung, die sich nicht unmittelbar erklärt. Ähnlich wie die Einrichtung des Büros: Unter den zusammengeklaubten Möbeln findet sich Biedermeier neben nüchterner 80er-Jahre-Stahlfunktionalität. Ein riesiger Steinbrocken liegt unter dem Sofa-Tisch, als wäre er darunter gekullert. Wozu der gut ist, erschließt sich nicht auf den ersten und auch nicht auf den zweiten Blick.

Mit fünfminütiger Verspätung betritt Mahide Lein den Raum: eine große, raumgreifende Gestalt mit kurzen Haaren und ungewöhnlicher Kleidung. Auffällig an ihr ist vor allem eine Gürtelschließe, die die Welt darstellt. Das ist, erklärt sie der Besucherin schnell, nicht irgendein modisches Accessoir: Die Welt, das ist Mahide Lein.

Bis zum Lokal im Soutterain von Kreuzbergs Zentrum ist sie einen gewundenen, wenn auch in der Rückschau vermutlich zwangsläufigen Weg gegangen: In einem liberalen und künstlerischen Elternhaus wurde sie groß, der Vater war Goldschmied, die Mutter Akkordeonistin und Ladeninhaberin. Schon in der Schule setzte sich Mahide Lein für andere ein – ohne Rücksicht auf die Folgen, die das für sie mitunter hatte. Ungerechtigkeiten und Unterdrückung, sagt sie, waren für sie unerträglich, egal gegen wen sie sich richteten.

Nach einer kurzen Exkursion ins bürgerliche Leben – eine Lehre zur Bürokauffrau und zwei Jahre im Beruf – widmete sie sich ganz den Dingen, die ihr am Herzen liegen. Sie engagierte sich aktiv in der Subkultur Frankfurts: von der Hausbesetzerszene über die Experimente der „sexuell befreiten“ 70er-Jahre bis zur Frauenbewegung. Als sie mit Anfang zwanzig merkte, dass sie Frauen liebte, war ihr Coming-out relativ kurz und schmerzlos. Ihrer Mutter, die sich zunächst weigerte, ihre sexuelle Orientierung zu akzeptieren, setzte sie ein Ultimatum: „Als sie meinte, dass sie davon nichts wissen wolle, habe ich ihr gesagt, dass sie dann von mir auch nichts mehr wissen wird. Nach zwei Wochen Funkstille hat meine Mutter angerufen und gefragt, wie die Frau heißt und was sie beruflich macht. Und von da an war alles normal.“

Wie selbstverständlich ergab sich aus ihrer sexuellen Orientierung, dass Mahide Lein sich um die Belange von Frauen kümmerte. Sie war an der Gründung eines Frauentreffs beteiligt, gründete das erste Lesbenzentrum in Frankfurt am Mainund war als Vermittlerin von Kunst und Kultur tätig. „Ich habe immer in der Mitte gearbeitet“, sagt sie, „einerseits mit den Etablierten, den Stars, und auf der anderen Seite habe ich unbekannte Talente unterstützt. Darin bin ich stark: Leute zu unterstützen, die noch nicht so weit sind und die mir aus irgendeinem Grund gefallen.“

Als sie 1977 nach Berlin ging, machte sie da weiter, wo sie in Frankfurt aufgehört hatte. Von einem Frauenbuchladen über ein weiteres Lesben- und Frauenzentrum bis zu PELZE-multimedia, das sie 1986 übernahm. Aus dem damaligen Künstlerinnentreff wollte Mahide Lein mehr machen: einen Ort der Experimente, ein Women-only-Klub, eine erotische Nachtbar, ein Ort für Performances, Diskussionen, Ausstellungen zu aktuellen Themen. „Ich wollte nicht nur eine erotische Bar machen, sondern alles sein. Immer wieder andere Themen aufgreifen und in Form von Raumgestaltungen, Vorträgen, Ausstellungen umsetzen.“ Ein Ort für Schönes und Schreckliches. Sexualität durfte und sollte dort ebenso stattfinden wie Performances und einfache Unterhaltungen beim Kaffee – durchaus auch gleichzeitig. Denn die Tabuisierung von Sexualität auch in der Frauenszene war für Mahide Lein nicht nachvollziehbar: „Ich wollte, dass Sex von zart bis hart ausgelebt wurde, dass alles eine gleiche Qualität hatte, dass man alles machen durfte. Schon als Mädchen habe ich gemerkt, dass mir meine Sexualität wichtig ist, dass sie schön und kosmisch ist.“

Das Experimentieren mit sexueller Macht war vielen Frauen in der Szene ein Dorn im Auge, ebenso die Drogen, die im Künstlerinnentreff kursierten. PELZE-multimedia sollte ein offener Ort sein, ein Auffangbecken für Frauen, die in anderen Berliner Frauentreffs Hausverbot hatten. Mahide Lein sprach prinzipiell keine Hausverbote aus. Das entspricht nicht ihrer Auffassung vom Umgang mit Menschen und Situationen.

PELZE-multimedia war Mahide Lein, und Mahide Lein war PELZE-multimedia. Bis 1990. Nicht, weil es Zeit gewesen wäre, damit aufzuhören, sondern weil sie rausgeflogen ist. Weil etwas geschehen war. Was, darüber schweigt sie sich aus. Wie der Rauswurf und das Ende des Projekts gelaufen ist, macht Mahide Lein immer noch traurig. Aber auf gewisse Art und Weise hat es ihr wohl auch geholfen, ihren Weg weiterzugehen. 1992 arbeitete sie erstmals mit Schwulen für ein Projekt, das ihr heute noch wichtig ist: Sie half mit, in St. Petersburg den ersten CSD Russlands zu veranstalten. 1995 dann, mit 45 Jahren, verließ sie nach über zwanzig Jahren die engen Grenzen der Szene. „Ich wollte raus aus allen Schubladen, ich wollte die Welt kennen lernen.“

Eine Reise nach Afrika, wo sie mit Männern, Frauen und Kindern gleichermaßen in Berührung kam, wie auch die zu dieser Zeit erstarkende Transgender-Bewegung waren für sie mit ein Anstoß, sich neue Welten zu erschließen. Der Unterschied zwischen Frauen und Männern schrumpfte plötzlich auf einige wenige Hormone, wenn überhaupt. Das half Mahide Lein, Männer wie Frauen anders zu sehen: „Es geht immer nur um körperliche Berührung, egal wer das dann ist. Hauptsache, es ist ein netter Mensch, eine nette Begegnung.“

Dank ihrer Begegnungen mit den Menschen in Afrika und der Arbeit mit fremden Kulturen begann sie, in Berlin afrikanische Künstler zu unterstützen. Das heißt nicht, betont sie, dass sie ihre Wurzeln verloren hätte. Oder nicht mehr für das kämpft, was ihr früher alles bedeutet hat. Sie möchte den Kreis derer erweitern, für die sie sich einsetzt und mit denen sie arbeitet. Sie möchte die Menschen zusammenbringen. Auch wenn sie häufig Schwierigkeiten hat, die verschiedenen Bereiche ihres Lebens zu verknüpfen. Wenn sie Veranstaltungen mit afrikanischen Künstlern hat, kommen fast nie Freunde aus der Gay-Szene. Wenn sie schwullesbische Feste feiert, kann sie ihre afrikanischen Freunde nicht dazu bewegen, dorthin zu kommen. Die zum Teil durchaus begründeten Vorurteile beider Gruppen machen ihr zu schaffen. Der einzige Tag im Jahr, an dem es ihr gelingt, alle Teile ihres Lebens zusammenzubringen, ist ihr Geburtstag. Wenn sie im Mittelpunkt steht.

Für ihr Engagement wurde Mahide Lein im vergangenen Jahr mit dem Berliner CSD-Zivilcouragepreis geehrt – „für ihren unermüdlichen Einsatz, über viele Jahrzehnte hinweg Themen wie Feminismus, lesbischen Sex und Politik mit kulturellen Darbietungen aus allen Teilen der Welt zu verknüpfen“, wie es in der Laudatio hieß. Der Preis steht, etwas angestaubt, aber gut sichtbar auf dem Klavier im Büro. Eine Anerkennung für die dreißig Jahre Arbeit, die ihr zwar immer Bedürfnis war und immer noch ist, die aber finanziell nicht sehr lukrativ ist. Die Auszeichnung bedeutet ihr viel, aber mit dem CSD selbst kann sie nicht mehr viel anfangen. „Irgendwie ist er überflüssig geworden, er unterscheidet sich von keinem anderen Straßenfest mehr und gefällt den Heteros ja mittlerweile besser als den Homos.“ Dass die einzelnen Communitys nicht zueinander finden, nicht über den Tellerrand schauen mögen, betrübt Mahide Lein am meisten. Sie hat das Gefühl, sagt sie, dass sie in einem ewigen Spagat gefangen ist. Vielleicht wäre die Situation besser, wenn sie ein eigenes Kulturhaus aufbauen könnte. Doch es sieht nicht danach aus, als würde sich dieser Wunsch so bald erfüllen.

CHRISTINA KRETSCHMER, 27, ist freie Autorin