Ein Jahr Krieg gegen die Ukraine: Verbrannte Erde, vernarbte Seelen

Vor einem Jahr begann Russlands Krieg. 1989 und 2001 zeigen: Die Schockwellen dieses 24. Februar 2022 können ihre Wirkung an ganz anderen Orten entfalten.

Eine abgeschossene Rakete steckt im Schnee

Russische Rakete an der Front in Avdiivka, Ukraine, Februar 2023 Foto: Yasuyoshi Chiba/afp via getty

Der 24. Februar 2022 hat sich in die Weltgeschichte eingebrannt. Wie der 11. September 2001 und der 9. November 1989 verändert auch der Tag des Beginns des russischen Vernichtungskriegs gegen die Ukrai­ne die Welt, er wird vielen Menschen ein Leben lang im Gedächtnis bleiben.

Ein Jahr Krieg in der Ukraine ist kein Abschluss. Es ist erst der Anfang. Gibt es überhaupt ein Ende? Selbst wenn alsbald die Waffen schweigen sollten, wofür rein gar nichts spricht: Die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen. Wladimir Putin wird nicht mehr zum rationalen Partner. Die Ukraine wird ihr Schicksal nicht mehr von außen bestimmen lassen wollen. Ihre Toten werden nicht mehr lebendig. Ihre Ruinen voller Leichen werden nicht mehr so aufgebaut wie früher. Ihre nach Russland verschleppten Kinder kommen nicht mehr unbelastet nach Hause. Ihre zerrissenen Familien werden nicht mehr heil. Zurück bleiben verbrannte Erde und vernarbte Seelen.

Das ist die Welt, in die uns der 24. Februar 2022 katapultiert hat, eine Welt, in der das reine Überleben einen Akt des Widerstandes darstellt. Für viele Menschen auf der Welt war das schon immer Realität, aber lange stand über dieser Realität das Ideal einer humanen Weltordnung, getragen vom Konzert der Mächte, so sie denn ihre Differenzen überwinden und für das Wohl der Menschheit eintreten. Nach dem 9. November 1989 ließ das Ende der Blockkonfrontation dieses Ideal in greifbare Nähe rücken, nach dem 11. September 2001 wurde daraus die Grundlage des sogenannten Kriegs gegen den Terror, was neue globale Spaltungen nach sich zog.

Heute liegt das Ideal selbst in Scherben, zerschmettert von Raketen im Dienst eines Regimes, mit dem keine friedliche Koexistenz mehr möglich ist, wenn Menschenwürde und Selbstbestimmung etwas wert sind. Das Putin-Projekt, in dem Menschenleben nicht zählen, ist nicht auf die Ukraine beschränkt. Die Ukraine ist Demonstrationsobjekt für Putins Welt – eine Welt, die so nie vollendet werden darf.

Es kommt dabei, das ist die positive Seite, auf jede und jeden Einzelnen an. Ob Putins Projekt gelingt oder nicht, entscheidet nicht er. Es entscheiden alle anderen. Die Ukraine hat entschieden, sich zu wehren. Andere Länder haben – noch – die Wahl, ob auch sie den Kampf für eine menschliche Welt aufnehmen, und wenn ja, was das praktisch bedeutet.

Ob Putins Projekt gelingt oder nicht, entscheidet nicht er

Diese Debatte steht noch ganz am Anfang und wird in Deutschland nicht wirklich ehrlich geführt. Viele wollen vor allem mit sich selbst im Reinen sein und blenden die Folgen ihrer Haltung aus. Sehnsucht nach Frieden ist keine Rechtfertigung dafür, Menschen in die Irre zu führen, schrieb einst Winston Churchill in seinen Weltkriegsmemoiren. Es ging um die 1930er Jahre, und es beschreibt auch die Gegenwart.

Es gibt aber, das ist die Schattenseite, kein versöhnliches Ende für diesen Krieg. Je nachdem, wer die Oberhand behält, dürften entweder die Ukraine oder Russland ihn nicht in ihrer jetzigen Form überleben – vielleicht sogar beide nicht. Das wäre um ein Vielfaches dramatischer als der Zerfall von Syrien vor zehn Jahren, von Irak vor zwanzig Jahren, von Jugoslawien vor dreißig Jahren. Diese Spätfolgen der historischen Daten von 1989 und 2001 zeigen zugleich, dass die Schockwellen einer Erschütterung wie die des 24. Februar 2022 ihre stärkste Wirkung zu ganz anderen Zeitpunkten und an ganz anderen Orten entfalten können als vermutet. Wo wird die Lunte zünden, die Putin vor einem Jahr an den Erdball gelegt hat? Ihm ist es wohl egal. Alle anderen müssen dafür sorgen, sie unschädlich zu machen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.