Ohne Anlauf

Notizbuch: Wie wirklich ist die Wirklichkeit wirklich? In „Sinn und Form“ bringt Wolfgang Kohlhaase noch einmal die Gegebenheiten in der DDR und schließlich auch die eigene Poetik auf den Punkt

In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Sinn und Form findet sich ein bislang unveröffentlichter Text des im vergangenen Oktober gestorbenen Drehbuchautors Wolfgang Kohlhaase („Solo Sunny“, „Sommer vorm Balkon“). „Onkel, hast du Feuer?“ wurde als Exposé für einen Film, der nie zustande kam, geschrieben, man kann den Text aber auch gut als Erzählung lesen. Die Hauptfigur ist ein Fernsehreporter namens Hoffmann, genannt Hoffie. Man begleitet ihn bei diversen Drehs für die DDR-Nachrichtensendung „Kamera konkret“ und einigen Liebesabenteuern. Die Drehs zeichnen sich dadurch aus, dass der Sinn des Gezeigten, von Kohlhaase lakonisch und leicht erzählt, im nachhinein immer auf Linie gebracht wird. „Aber ob das im Augenblick richtig ist?“, fragt sich Hoffies Chef bei jedem Material und lässt aus einem Jungen mit Zigarette, der Passanten nach Feuer fragt, per Nachsynchronisierung etwa einen Nichtraucher machen, weil offiziell gerade Gesundheitsvorsorge angesagt ist.

Eine neue Kollegin bringt die Handlung in Gang. Hoffie will vor ihr als rasender Reporter angeben und deckt auch wirklich etwas auf – was in der Nachrichtensendung natürlich herausgeschnitten wird. Und die Liebesabenteuer sind davon geprägt, dass Hoffie kurz vorm entscheidenden Moment immer irgendwo ein Spiegelbild erblickt und darauf unter Impotenz leidet. In einer zwischendurch kurz angerissenen Szene führt ein Referent vor 200 Filmregisseuren mit „zuversichtlicher Stimme“ aus: „So müssen wir uns immer wieder fragen: Wie wirklich ist die Wirklichkeit wirklich?“ Für Hoffies Vorgesetzte jedenfalls nicht so wirklich wie ihre Vorgaben. Schnelle Wechsel, Slapstickdialoge, ein zutiefst antiautoritäres Spiel mit den Gegebenheiten der DDR – den Film hätte man gern gesehen und kann jetzt immerhin diese Erzählung lesen.

Auf andere Weise lustig und aufschlussreich ist das den Abdruck begleitende Gespräch, das Elisa Primavera-Lévy und Matthias Weichelt im April 2022 noch mit Michael Kohlhaase geführt haben. Anstatt auf die Fragen direkt zu antworten, erzählt Kohlhaase zunächst immer noch eine mögliche Filmszene, er sprudelt davon wirklich über, und bringt dann doch zwischendurch seine eigene Poetik auf den Punkt: „Es darf keinen Anlauf nehmen, es muss sich erzählen, Voraussetzungslosigkeit hat für das Erzählen ja eine große Schönheit.“

Dirk Knipphals

„Sinn und Form“, Ausgabe Januar/Februar 2023, 144 ­Seiten, 11 Euro