Sind Stimmen für kleine Parteien verschenkt?

Wer mit der Politik der großen Parteien nicht einverstanden ist, hat rund 30 Alternativen – etwa, um noch mehr Gewicht auf Klimaschutz oder Mietenpolitik zu legen. Den Sprung ins Parlament werden die kleinen Parteien wohl nicht schaffen

Die Piraten hatten es 2011 mal deutlich über die 5-Prozent-Hürde geschafft – es sieht aber nicht danach aus, dass sie solche Erfolge wiederholen könnten  Foto: imago

Hürden Mindestens fünf Prozent muss eine Partei bekommen, um im Abgeordnetenhaus vertreten zu sein. Bei den Bezirken sind es 3 Prozent. Das schaffte die Tierschutzpartei 2021 in vier Bezirken und Die Partei in Friedrichshain-Kreuzberg. Ab einem Prozent der Stimmen haben Kleinparteien Anspruch auf staatliche Finanzierung.

Kleinparteien Neben den sechs im Parlament vertretenen Parteien treten 27 weitere an, etwa für Mietenschutz, Klimaschutz oder ein sehr langes Leben. Nur die Aktion Partei für Tierschutz – Tierschutz hier! steht nicht erneut auf dem Wahlzettel – die Tierschutzpartei ist aber wie 2021 wieder dabei.

Top fünf Bei der Wahl 2021 gingen insgesamt 12,5 Prozent der Stimmen an Kleinparteien. Besonders erfolgreich war die Tierschutzpartei: Sie holte mit 2,2 Prozent, die meisten Zweitstimmen, gefolgt von Die Partei (1,8 Prozent), Die Basis (1,3 Prozent), Volt (1,1 Prozent) und dem Team Todenhöfer (1 Prozent). (wah)

ja

Eine Stimme für Kleinstparteien ist eine verschenkte Stimme. Klingt hart? Mag sein. Aber wer als Wäh­le­r*in seine Stimme begreift, als die Möglichkeit mitzugestalten, der wählt eine Partei, die tatsächlich Politik macht: die den Neubau von Sozialwohnungen organisiert, Autobahnverlängerungen verhindert, und die um Geld für Schulsanierungen im nächsten Doppelhaushalt ringt, auch wenn enteignete Wohnkonzerne entschädigt werden müssen. Ob die Partei dabei in einer Regierungskoalition sitzt oder in der Opposition im Parlament, ist egal. Aber: Wer als eine Stimme des Volkssouveräns mitgestalten will, wählt die Möglichkeit zur Einflussnahme.

Natürlich, eine Stimme für die Mieterpartei kann auch eine Stimme dagegen sein. Gegen die Linke zum Beispiel, die in einer rot-grün-roten Koalition mit verantworten muss, dass der erfolgreiche Volksentscheid für die Enteignung großer Wohnkonzerne vielleicht nie in Gesetzesform gegossen wird.

Man kann für die Klimaliste stimmen, wenn man gegen die Grünen ist, mit ihrer von vielen Klimabewegten als zu lasch empfundenen Klimaneutralpolitik und der nur schleppend in Gang kommenden Verkehrswende – insbesondere beim Ausbau der Radwegkilometer. Gerade die Grünen betonen ja gerne, wie sehr sie den „Druck von der Straße“, aus der Bewegung heraus bräuchten. Weil sie eigentlich gerne viel radikaler ausfallende Klimapolitik machen würden, wenn nur die störrischen Koalitionspartner nicht wären.

Man kann den aktivistischen Impuls des Dagegen-Seins aber auch auf die Straße verlegen statt in die Wahlkabine. Da ist er nämlich wirksamer, oder anders gesagt: Da ist er weniger verschenkt. Man muss sich auch nicht gleich auf dem Asphalt festkleben. Der Berliner Demo-Kalender ist ein gut bestückter Gemischtwarenladen, da ist für jedes Level etwas dabei.

Auf die Mieterpartei entfielen bei der Wahl 2021 0,2 Prozent der Zweitstimmen, die Klimaliste kam auf 0,4 Prozent. Vielleicht treibt aktuell die von den NRW-Grünen mitverantwortete Räumung von Lützerath der Klimaliste nochmal ein paar mehr verärgerte Grünen-Wähler*innen in die Arme. Aber für die 5-Prozent-Hürde wird es kaum reichen.

Wenn es schlecht läuft, ist die Stimme für die Klimaliste eine Stimme für die CDU. Die will die A100 weiterbauen. Man kann sich natürlich immer noch auf der Baustelle festkleben, wenn es so weit ist. Aber man kann seine Stimme auch schon vorher sinnvoll nutzen.

Anna Klöpper

nein

33 Parteien treten am 12. Februar an, und schon diese Zahl zeigt: Das politische Spektrum endet nicht bei den sechs Parteien, die bislang im Abgeordnetenhaus sitzen. Die Ber­li­ne­r*in­nen haben viel mehr Optionen, wo sie ihre Kreuze machen können. Nur: Können sie damit etwas bewirken? Schließlich gilt es laut Umfragen derzeit als unwahrscheinlich, dass noch eine siebte Partei Ver­tre­te­r*in­nen ins Abgeordnetenhaus schickt.

Doch „verloren“ oder „verschenkt“ sind Stimmen für die Au­ßen­sei­te­r*in­nen auf keinen Fall. Vielmehr äußert sich in dieser Wortwahl eine gewisse Verachtung für das demokratische System, für das die Möglichkeit von Veränderungen eine Grundbedingung ist: Wozu sollte mensch sonst wählen?

Dass es diese Veränderungen gegeben hat, ist offensichtlich. Bis Anfang der 1980er Jahre hatte die Bundesrepublik ein sogenanntes Zweieinhalbparteiensystem aus SPD, CDU und einer FDP, die ab und an ihren Koalitionspartner wechselte. Inzwischen sind es sechs Parteien, die als etabliert gelten können: Aus dem Schwarz-Weiß-Spektrum wurde eine vielfarbiges Portfolio, weil weder SPD noch CDU verhindern konnten, dass sie Konkurrenz an ihren Rändern bekommen haben.

Für die Arbeit im Parlament ist das bisweilen schwierig, weil die Bildung von Koalition mehr Verhandlungen als früher verlangen. Aber letzten Endes bildet diese Vielfalt nur die Veränderungen in der Gesellschaft ab, die eben immer pluralistischer wird.

Wenn nun am Ende dieses Wahlkampfs vor allem die Grünen an ihre Kernklientel appellieren, auf keinen Fall für kleinere Parteien zu stimmen, etwa aus Frust über die Räumung von Lützerath, dann entbehrt das nicht einer gewissen Ironie: Es würde die Grünen schlicht nicht geben, wenn ihre Wäh­le­r*in­nen in den 1980ern diesen Rat befolgt hätten. Damals war das ein Zeichen, dass die bis dahin etablierten Parteien nicht mehr alle politisch relevanten Themen – in diesem Fall die Ökologie – abbildeten. Die Klimakrise und der Umgang damit könnte sich ähnlich im Parteiensystem abbilden.

In Berlin gelang es 2021 der Tierschutzpartei, mit 2,2 Prozent der Zweitstimmen zur größten der kleinen Parteien zu werden; dank eines noch besseren Ergebnisses auf Bezirksebene zog sie in vier Bezirksverordnetenversammlungen ein. Weitere gut zehn Prozent entfielen auf die anderen „sonstigen“ Parteien, die damit zusammen fast so viel Stimmen auf sich vereinigen konnten wie die Linkspartei insgesamt.

Daher ist nicht auszuschließen, dass absehbar ein oder zwei weitere Parteien eine Stamm­wäh­le­r*in­nen­schaft um sich scharen können. Vor ein paar Jahren wäre es mit den Piraten fast so weit gewesen; auch sie „fischten“ unter anderen bei den Grünen. Statt eine „vernünftige“ Entscheidung der Wäh­le­r*in­nen einzufordern, müssen die Parteien ihre inhaltliche Defizite erkennen, beheben und so den Wäh­le­r*in­nen entgegenkommen – damit diese sich nicht verabschieden. Bert Schulz