„Apokalyptische Rede stellt eine Chiffre der Dringlichkeit dar“

Die Sprache der neuen Klimabewegung ist stark von Wendezeit-Rhetorik geprägt, sagt Alexander-Kenneth Nagel. In seinem Buch „Corona und andere Weltuntergänge“ untersucht der Göttinger Religionssoziologe jenseits von Polemik, was diese Untergangsfantasien der Gegenwart zu bedeuten haben

So fängt's an: Der Engel verkündet Johannes das Weltende Foto: Zeichnung: William Blake/Met NY CC

Interview Benno Schirrmeister

taz: Herr Nagel, warum bietet es sich an, Klimaprotestbewegungen in apokalyptischer Perspektive zu betrachten?

Alexander-Kenneth Nagel: Wenn man sich die Antwort leicht machen will, könnte man einfach sagen, sie sollten wissenssoziologisch so betrachtet werden, weil sie im politischen Raum als apokalyptisch verhandelt werden. Das ist in Deutschland ja spätestens der Fall, seit Jutta Ditfurth Extinction Rebellion vorgeworfen hat, es handele sich um eine Weltuntergangs-Sekte. Innerhalb der linken ökologischen Szene wird also bereits das Label „Apokalypse“ dafür verwendet.

Also schreiben Sie nur ein polemisches Labelling fort?

Nein, mir geht es nicht um Polemik und darauf lässt es sich auch gar nicht beschränken. Die apokalyptische Perspektive steht ja in einer gewissen Tradition der Bewegung: Rudolf Bahro, der heute etwas in Vergessenheit geraten ist, wendet als Vordenker der ökologischen Transformation ganz ausdrücklich die Apokalypse produktiv an auf die Möglichkeit der Veränderung. Die Vorstellung wird also innerhalb des Feldes so verhandelt.

Aber Tradition ist doch nicht alles …?!

Sicher nicht. Aber es finden sich eben auch Elemente in den Äußerungen dieser Bewegung, die mit klassisch apokalyptischer Rhetorik verbunden werden können. Dazu gehören stark dualistische Auslegungen, wie die scharfe Trennung zwischen den einfachen Leuten, die ökologische Transformation anstoßen sollen, und den Eliten …

… dem „einen Prozent“, das für die Klimakatastrophe verantwortlich gemacht wird?

Und das sich der notwendigen Transformation entgegenstellt, ja. Wir finden eine erhebliche Wendezeit-Rhetorik in den Äußerungen von Extinction Rebellion und Letzte Generation, also die Engführung sozialer Wirklichkeit auf einen Umbruchpunkt.

Klassische Apokalyptik, gerade die des Christentums hat allerdings eine Trostfunktion. Man freut sich auf Armageddon, weil danach Schluss ist mit den Bösen und wir Guten im Himmlischen Jerusalem landen. Hier hingegen soll das Weltende abgewehrt werden. Ist das nicht ein Gegensatz?

Es stimmt, die Johannes-Offenbarung gilt als ein Trostbuch für die bedrängte Christenheit. Aber die meisten modernen Apokalypsen beschwören das Ende der Welt, um es zu verhindern: Das Muster findet sich im ersten Bericht des Club of Rome, aber noch spezieller bei Rudolf Bahro, Extinction Rebellion und Letzte Generation. Ich bezeichne sie daher als konsultative Apokalyptik.

Warum speziell bei Extinction Rebellion und Letzte Generation?

Beim Club of Rome geht es darum, das System auf einem geringeren Niveau wieder zu konsolidieren. Aber Bahro und auch Extinction Rebellion oder Letzte Generation wollen durch die Krise zu einem neuen, besseren Zustand gelangen. Das ist anders als bei der Johannes-Apokalypse nicht transzendent gedacht: Dort kommt das Heilige Jerusalem vorgefertigt aus dem Himmel auf die Erde. Hier dagegen ist es etwas, was wir selber ins Werk setzen müssen. Aber es führt auf ein progressives Hoffnungsmoment hin – und nicht nur auf die Restitution des Alten.

In den Schriften von Extinction Rebellion und ihrer Führerfigur Roger Hallam leitet sich dieses Hoffnungsmoment aus dem alleinigen Besitz der Wahrheit ab. Ist das typisch?

Ja. Es ist auf jeden Fall ein Kennzeichen apokalyptischer Weltdeutung, dass man sich im exklusiven Besitz der Wahrheit wähnt. Im Hinblick auf diese exklusive Wahrheit erwächst Verkündigungsinteresse. Das ist wiederum bei Extinction Rebellion sehr deutlich: Da ist ständig von „the truth“ die Rede. Dabei soll es spannenderweise nicht reichen, diese Wahrheit nur kognitiv zu vermitteln. Es wird darauf beharrt, dass sie emotional verinnerlicht werden muss.

Also die Wahrheit fühlen …?

Foto: Daniel Teetz

Alexander-Kenneth Nagel Jahrgang 1978, Professor für Religionswissenschaft und Sprecher des Forums für interdisziplinäre Religionsforschung an der Uni Göttingen.

Es wird darauf insistiert, die Leute emotional anzusprechen. Nur so könne der Verblendungszusammenhang durchbrochen werden, in dem wir alle stecken. Das ist im Grunde ein altes marxistisches Argument: Wir stehen alle in einem Verblendungszusammenhang, den wir aufbrechen müssen, um dann mit unserer Wahrheit einzudringen.

Daraus leitet sich bei Hallam und Extinction Rebellion ab, dass erst das Unspezifisch-Künftige als „wahre Demokratie“ gilt – bei gleichzeitiger Ablehnung des Parlamentarismus. Ist apokalyptisches Denken mit unserer Vorstellung von Demokratie vereinbar?

Dieses apodiktische Element ist populistisch und antidemokratisch. Das ist ein Element apokalyptischer Rede, mit dem ich selbst sehr ringe. Hier kann ich mich auch mit einer theologischen Deutung treffen, nach der apokalyptische Rede eine Chiffre der Dringlichkeit darstellt. So verstanden, also wenn man es nicht als politische Stellungnahme deutet, finde ich es statthaft, sich des Weltuntergangsszenarios zu bedienen. Man kann daran auch gerne glauben. Aber in dem Moment, wo es in die politische Öffentlichkeit geht, gilt es, die religiösen Vernunftpotenziale so zu übersetzen, dass sie allgemein verständlich werden.

Das heißt?

Es geht darum, sie mit einer nicht-populistischen Anschlusskommunikation zu verbinden. Wenn das gelingt, kann es wieder in demokratische Formen überführt werden. Das wäre meine Hoffnung.

Dafür spricht auch, dass von Konrad Adenauer bis Petra Kelly apokalyptisches Reden im demokratischen Diskurs Deutschlands immer wieder aufgeploppt ist.

„Apokalyptik hat immer versucht, die seriösesten Quellen anzuzapfen, die es gibt. Zur Zeit von Johannes von Patmos war das der Deute-Engel. Heute ist es die naturwissenschaftlichfundierte Klimawissenschaft“

Trotzdem müssen die antidemokratischen Motive ernst genommen werden. Dazu gehört auch die Figur des Notstands. Da lässt Carl Schmitt grüßen: Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand gebietet. Es wird mit der Notlage eine Aushebelung der demokratisch-rechtsstaatlichen Verfahren gerechtfertigt. Hallams Narrativ ist: Wir haben’s bis hierher im Guten versucht und mit Kompromissen. Es hat nicht geklappt. Wir brauchen jetzt die Revolution. Bei den Bürgerversammlungen, die bei Letzte Generation und Extinction Rebellion stattdessen für das staatliche Handeln zuständig sein sollen, wird nicht klar, wie man die zusammensetzen will – außer, dass sie „divers“ sein sollen. Auch das Verhältnis dieser Bürgerversammlungen zu dem expertokratischen Moment, also der großen Rolle, die Wissenschaftler plötzlich spielen sollen, ist nicht klar.

Aber hebt nicht das Nutzen seriöser Forschung als Quelle diese Apokalyptik von der religiösen Offenbarung ab?

Apokalyptik hat immer versucht, die seriösesten Quellen anzuzapfen, die es gibt. Zur Zeit von Johannes von Patmos war das eben der Deute-Engel. Heute ist es die naturwissenschaftlich fundierte Klimawissenschaft. Geändert hat sich nur das Verständnis dessen, was seriöse Quellen sind.

Naja, ich würde dem Weltklimarat schon gern mehr empirische Realität zubilligen als so einer Engelserscheinung …

Klar. Aber ich frage nach der Anwendbarkeit oder Kontinuität apokalyptischer Denkarten. Und da lässt sich feststellen, dass auf dem jeweiligen Diskursfeld stets versucht wird, maximale Glaubwürdigkeit herzustellen. Früher konnte man das mit göttlicher Inspiration tun. Heute macht man es mit naturwissenschaftlichen Ergebnissen. Wissenssoziologisch relevant ist daran, dass die Methoden der Wahrheitsfindung als Teil der Erzählung mitpräsentiert werden.

Alexander-Kenneth Nagel, „Corona und andere Weltuntergänge“. Transcript 2021, 212 S., 30 Euro; E-Book 29,99 Euro

Welche nicht-apokalyptischen Möglichkeiten gibt es denn, mit den allgemein geteilten Auffassungen von der Klimakrise umzugehen?

Das ist eher eine Frage an die Politikwissenschaft. Ich würde erwarten, dass auch die radikalen Ausdrucks- und Protestformen noch demokratisch eingehegt werden können.

Allerdings werden die Protestformen mit dem Hinweis auf die antidemokratischen Tendenzen delegitmiert.

Dass der Vorwurf von reaktionärer Seite funktionalisiert wird, mag sein. Aber die Probleme bleiben ja trotzdem bestehen. Antidemokratisch ist das revolutionäre Moment, das auf rasche Abschaffung parlamentarischer Institutionen ausgerichtet ist. Antidemokratisch ist die holzschnittartige Elitenkritik. Und auf jeden Fall ist die ausdrückliche Absage an jede Form des Kompromisses, die sich bei Roger Hallam findet, antidemokratisch. Darüber, ob man mit einer Gruppierung sprechen kann und soll, die den Kompromiss ablehnt, sollte man allerdings nachdenken.