Lehren aus dem Krieg: Krieg im eigenen Heim

Lange war unsere Autorin sicher, dass es Krieg nur in anderen Ländern gebe. Jetzt ist er auch in ihrem Land – und sie denkt neu über sich selber nach.

Kinder haben sich unheimliche Masken gebastelt und sitzen an einem Tisch

Kinder in traditionellen ukrainischen Kostümen, in einem Luftschutzraum am orthodoxen Weihnachtstag Foto: Pavlo Palamarchuk/reuters

Als ich noch in der Grundschule war, kam ein neuer Junge in unsere Klasse. Er war mürrisch und sprach mit niemandem. Die Lehrerin sagte uns, dass dieser Junge vor dem Krieg geflohen war, dass er unsere Sprache nicht verstand, aber mit uns gemeinsam lernen werde. Ich war damals neun Jahre als. Ich erinnere mich nicht mehr an den Namen dieses Jungen, nicht an seine Nationalität, aber ich erinnere mich noch ganz genau an seinen Blick. Darin konnte man lesen: „Warum bin ich hier? Was geht hier vor?“

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Wir waren noch klein, vom Krieg hatten uns nur unsere Großeltern erzählt. Wir wussten, dass es das Schlimmste ist, das passieren kann, aber wir wussten absolut nicht, wie wir mit unserem neuen Mitschüler reden könnten. Die einen teilten schweigend ihre Süßigkeiten mit ihm, andere gingen ihm aus dem Weg. Nach einiger Zeit verließ dieser Junge unsere Klasse wieder.

Jetzt denke ich häufig an ihn. Vielleicht, weil ich selber einen ähnlichen Blick habe wie er damals. Oder weil ich selber eine Antwort auf die Frage „Was geht hier vor?“ suche. Wie kann so etwas überhaupt sein?

Freunde von mir teilen regelmäßig ihre Gedanken darüber, was der Krieg sie gelehrt hat. Einige sagen, dass sie begonnen hätten, das Leben mehr wertzuschätzen. Oder die Zeit, die sie mit ihrer Familie verbringen. Einige haben sich geheime Wünsche erfüllt, weil es vielleicht kein Morgen mehr gibt. Ich höre jedes Mal zu und denke auch darüber nach, was mich der Krieg gelehrt hat. Ich habe das Leben immer geliebt, habe immer jede Minute wertgeschätzt, habe auch ohne Krieg gerne Zeit mit der Familie verbracht, aber Träume waren ohne Todesangst wünschenswerter.

Und doch habe auch ich eine Lektion gelernt. Ich verstehe jetzt, was ein Mensch fühlt, in dessen Heim der Krieg angekommen ist. Ich verstehe, dass niemand auf der Welt gegen dieses schreckliche Schicksal gefeit ist. Früher dachte ich, dass es gewaltsame Konflikte nur in Ländern gibt, in denen Gewalt das entscheidende Mittel ist, um zu zeigen, dass man im Recht ist. Syrien, Armenien, Afghanistan schienen mir kriegsführende Länder, in denen dieser Geist von Feuer und Schwert herrschte.

Aber das stimmt nicht. Und es ist mir jetzt peinlich. Dort lebten genau solche Menschen, dort starben genau solche Unschuldigen, von dort flohen genau solche Verängstigten, dort flossen Tränen genau solcher Eltern, Kinder, Schwestern und Brüder …

Ich würde gerne in die Vergangenheit zurück. Und wenn das möglich wäre, würde ich immer an der Seite dieses Jungen aus meiner Klasse sein. Notfalls würde ich einfach schweigen. Damit er zumindest wüsste, dass er in dieser Welt nicht alleine ist. Ich würde ihn fest, ganz fest umarmen und sagen: „Entschuldige, ich schäme mich, dir aus dem Weg gegangen zu sein, nur weil ich nicht verstanden habe. Jetzt verstehe ich. Und bleibe so lange an deiner Seite, wie du es brauchst!“

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

Finanziert von der taz Panter Stiftung.

Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat der Verlag edition.fotoTAPETA im September herausgebracht.

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ist Chefredakteurin des ukrainischen Nachrichtendienstes USI.online. Sie ist Mutter von zwei Kinder (9 und 12).

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Eine Illustration. Ein riesiger Stift, der in ein aufgeschlagenes Buch schreibt.

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