Brief an das eigene Baby: „Ich denke jetzt oft an Alan Kurdi“

Unser Autor schreibt einen Brief an seine neun Monate alte Tochter. Es ist ein trauriger und wütender Brief – aber ohne Hoffnung ist er nicht.

Ein Spielzeug Eisbär schwimmt in einer Badewanne

Ich singe Dir Kinderlieder vor, in den deutschen ist viel von Tieren die Rede Foto: Anja Weber-Decker/plainpicture

Neun Monate bist Du jetzt alt, noch geht für Dich das Leben von hier bis zur Tür. Du trainierst schon fleißig aufzustehen, ich halte meine Hand vor jede Möbelkante: damit Du Dir nicht weh tust, falls Du umfällst. Jeden Tag tue ich so, als wäre diese Welt nicht kaputt, und jeden Tag dankst Du es mir mit diesem Deinem beinah zahnlosen, herzlichen, befreiten Lachen.

Du stöhnst, wenn Du Dinge versuchst, die Du noch nicht beherrschst, aber nicht angestrengt, sondern voller Freude; es erinnert mich daran, dass Anstrengung etwas Schönes sein kann. Dass es sich lohnt, sich zu strecken.

Ich hoffe, Du kannst Dir das lange erhalten; dass das Gefühl von Vergeblichkeit, dass mich bisweilen befällt, nicht auch Dich überwältigt. Manchmal sehe ich mir Modellrechnungen an, wie die Welt in 40 Jahren aussehen wird; wo ist dann noch Leben möglich? Wie hoch steigt der Meeresspiegel, wo ist dann wahrscheinlich Wüste, was bedeutet es, wenn der Golfstrom abbricht?

Ich esse Schokolade dabei. Falls Du das liest, wenn Du so alt bist wie ich jetzt, wird sie sehr wahrscheinlich ein Luxusgut sein. Ich esse sie nicht einmal genussvoll, ich stopfe sie in mich hinein. Es ist erbärmlich.

Wir leben auf 50 Quadratmetern

Wenn wir beide Glück haben, wird es mich in 40 Jahren noch geben. Na ja, wenn ich Glück habe. Es gab einmal einen Virus, der tötete Menschen wie mich und Deine Mutter; man nannte uns Risikogruppe. Am Anfang haben sie noch beschlossen, uns zu schützen, irgendwann wurde es ihnen zu viel.

Es war für sie bequemer, keine Maske zu tragen, als dass Du Eltern hast. Kaum warst Du auf der Welt, warst Du ihnen schon egal. Es ist halt auch Pech, wenn beide Eltern kaputt sind. Der Rest hat so getan, als wäre er ganz, bis er merkte, dass er es nicht ist. Bei manchen dauert es länger, bis die Selbstlüge sich auflöst.

Wie soll ich Dir das vermitteln? Ich hoffe, die Gesellschaft lässt mich alt genug werden, damit ich Dir das noch nach der Pubertät auseinandersetzen darf. Bis dahin machen wir es so: Wir leben auf 50 Quadratmetern, die Wände zerfressen von Mäusen.

Dich stört es nicht, du bist fröhlich

Der Investor, der das Haus gekauft hat vor bald 10 Jahren, weigert sich, es instand zu halten. Neulich hat er den Hausflur streichen lassen, und zwar nur den Hausflur, nicht die Aufgänge, vielleicht wird das Gebäude also bald wieder veräußert. Dich stört es nicht, Du fasstest fröhlich in Mausefallen, wenn man Dich ließe.

Seit einem Jahrzehnt folgt Krise auf Krise in immer kürzeren Abständen. Als ich Teenager war, sprach man vom Ende der Geschichte, so als sei alles ins Lot gekommen. Jetzt reicht ein feststeckendes Schiff im Suezkanal, und die Weltwirtschaft erzittert. Und immer ist eine Krise erst dann überwunden, wenn man wieder auf Vorkrisenniveau gekommen ist. Es ist, als wäre der Fortschritt dazu da, die Welt in Gelee einzulegen.

Ich wünschte, das würde klappen, aber ich sehe es so, wie Stephan Lessenich es in „Nicht mehr normal“ konstatiert: „Die alte Normalität hat Risse bekommen, sie ist brüchig geworden.“ Erstaunlich und frustrierend aber ist die Unfähigkeit dieser Zeit, aus Krisen zu lernen. Es ist, als wäre die gesamte Gesellschaft altersstarrsinnig. In den Rezensionen zu Lessenichs Buch wird oft moniert, dass er keine Lösungen anbiete.

Gibt es denn Lösungen? Ich habe angefangen, Prepper zu verstehen und Leute, die sich riesige SUVs kaufen. Intellektuell weiß ich, dass das keine Lösungen sind, aber emotional kann ich nachvollziehen, was sie damit wollen: Sie panzern sich gegen eine feindliche Welt. Wenn es einen Soundtrack zu dieser Gesellschaft gibt, scheint mir, dann ist es dieses Stoßgebet, das Deine Urgroßmutter immer gern zitierte: „Heiliger Sankt Florian, verschone mein Haus, zünd’ andre an.“

Eine Politik, die den Tod will

Ich denke neuerdings oft an Alan Kurdi. Wie kann das sein, dass Alan Kurdi ertrunken ist? Und wenn er ertrunken ist, wie kann es sein, dass niemand dafür verantwortlich ist? Er liegt an diesem Strand, an dem heute wieder Leute Urlaub machen, als würde er gleich aufstehen; und er ist tot. Ein Kind, kaum älter als Du, kopfüber, als würde es Raupe spielen.

Auch Du liegst häufig auf diese Art, wenn Du versuchst aufzustehen. Und es ist ja kein bedauerlicher Unfall; es gibt eine Politik, die diesen Tod so genau will. Die Bilder dazu, die wollen sie nicht. Was ist mit all den anderen Kindern, die an Außengrenzen erfrieren, die lautlos zum Grund des Mittelmeers sinken? Wie kann man überhaupt noch baden darin, wenn man das weiß?

Das ist kein Vorwurf. Ich weiß es schlicht nicht. Ich weiß, dass viele es können, sonst wäre nicht Friedrich Merz CDU-Vorsitzender. Friedrich Merz ist die Galionsfigur des moralischen Revanchismus, jemand, der anderen übel nimmt, dass sie sind. Das gab’s doch früher nicht, sagen sie, und wenn Leh­re­r*in­nen überfordert sind, suchen sie die Schuld bei den Schü­le­r*in­nen und nennen sie Pascha.

Gleichzeitig machen die Merzer sich lustig über alles, was ihre Gewohnheiten auch nur tangiert. Warum muss etwas, das vegan ist, Wurst heißen?, rufen sie. Ihre Gender-Witze verstopfen jede Kommentarspalte. Auch sie, erfahre ich über Facebook, haben Kinder, ältere zwar, und die sich nicht melden.

Regeln sind Makulatur. Regeln sind für die Armen, damit man sie bestrafen kann. Irgendein Arschloch hat von sich behauptet, den Welthunger beenden zu können, aber dann doch von dem Geld lieber Twitter gekauft, um Nazis und An­ti­se­mi­t*in­nen Reichweite zu verschaffen.

Auserzählte Menschen

Twitter, das muss ich Dir vielleicht erklären, war eine Möglichkeit des Austausches, in dessen Rahmen Liberale sich selbst ihrem Zynismus geopfert haben. Immerhin war das unterhaltsam, weil sie sich stets für intelligenter hielten, als sie sind. Es gab tatsächlich Leute, die sich „Chefreporterin Freiheit“ genannt haben, als wären sie CEO der Foundation für Recht und Verfassung.

Sie wurden zu Fernsehdiskussionen eingeladen und haben da einen Haufen Kram gesagt. Man hat oft den Niedergang der Romanliteratur zu dieser meiner Zeit beklagt, aber was will man auch schreiben über solche Menschen. Sie zeigen ihre Visitenkarte und sind auserzählt.

Ich singe Dir Kinderlieder vor; in den deutschen ist viel von Tieren die Rede. Ich selbst weiß nicht mehr, wie ein Wiedehopf in freier Wildbahn aussieht. Ich erschlage jedes Jahr weniger Mücken, ich bin schon lange nicht mehr versehentlich auf einen Grashüpfer getreten.

Was wird noch übrig sein von diesen Viechern, wenn Du alt genug bist, um über sie zu lernen? Wir haben Meisenknödel aufgehängt auf dem Balkon diesen Winter, gekommen sind nur Tauben. Wenn ich Dir von Rotkehlchen erzähle, wirst Du denken, dass ich mir diese Tiere ausgedacht habe.

Es gibt nur eine Sache, die ich Dir ausreden wollen würde; solltest Du je einen sozialen Beruf ergreifen wollen, mach es nicht. Sie saugen Dich aus bis auf die Knochen und spucken Dich dann gegen die Wand. Du wirst vielleicht acht, zehn oder zwölf Jahre den Eindruck haben, das Richtige zu tun, wenn Du Boomern, die auf alles geschissen haben, den Arsch abwischst; dann kommt der Burn-out und für Dich ist niemand mehr da. Mach das nicht.

Naiv ist besser als gemein

Sollen sie verrecken in ihrem Dreck und sich weiter über Gendersterne lustig machen; niemand wird Dir danken, ihnen geholfen zu haben. Vor allen nicht die Politik. In der größten Pflegekrise seit ’45 hat die SPD einen Gesundheitsökonomen zum Minister gemacht, und das ist nicht das, wofür er angegriffen wird.

Was ich denke, ist: Es ist doch schöner, naiv zu sein statt gemein. Ich denke auch, dass es Hoffnung gibt. Die Teenager, die ich kenne, sind gefestigter und klüger, als ich es in ihrem Alter war; jemanden wie Greta Thunberg hatten wir in unserer Generation nicht. Zumindest erinnere ich mich nicht.

Es hat sich nicht viel geändert, es ist nur alles intensiver. Der Schmerz, die Traurigkeit, aber auch das Glück. So sehr gemocht zu werden, wie Du mich magst, das habe ich eigentlich gar nicht verdient. Das ist ein Geschenk. Diesem Geschenk gerecht zu werden, das ist seit Deiner Geburt meine Aufgabe; eine sinnvolle, eine erfüllende auch.

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