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: „Das Internet ist ein Ort, wo wirklich ungefiltert gesprochen werden kann“

In der Reihe Satzwechsel liest Anna Yeliz Schentke in Bremen aus ihrem polyphonen Roman „Kangal“

Interview Josephine von der Haar

taz: Frau Schentke, in Ihrem Buch „Kangal“ geht es um politischen Aktivismus in der Türkei. Wie machen sich die Repressionen durch die Regierung bei den Prot­ago­nis­t*in­nen bemerkbar?

Anna Yeliz Schentke: Ich glaube, wichtig ist erst mal anzuerkennen, und das spiegelt sich auch in den Figuren, dass je nach Lebenssituation und Kontext ein sehr unterschiedlicher Umgang mit der Repression erfolgt, weil auch die Repressionen sehr willkürlich sind. Somit unterscheidet sich die Wahrnehmung von Gefahr und Angst total. Tekin und Dilek, die beiden Prot­ago­nis­t*in­nen aus der Türkei, sehen beide die Gefahr, aber sie haben einen unterschiedlichen Umgang damit.

Ayla, die in Deutschland aufwächst, kann es sich lange Zeit leisten, unpolitisch zu sein.

Ja, bei Ayla ist es komplett konträr. Sie macht die Erfahrung in der Türkei nicht. Ihr Blick aus Deutschland ist teilweise sehr verstellt oder geprägt von den Leuten, die Dinge nur aus der Ferne mitbekommen. Es ist für sie keine existenzielle Frage, sich mit Politik zu beschäftigen.

Wie wirkt sich das gegenseitige Misstrauen und die Angst im Sprechen der Prot­ago­nis­t*in­nen aus?

Foto: Robert Schittko

Anna Yeliz Schentke, geboren 1990, Schriftstellerin, Gründungsmitglied des PEN-Berlin. Ihr Roman-Erstling „Kangal“ erschien 2022.

Ein Prinzip ist, nur das zu sagen, was nötig ist und so zu sprechen, dass Vieldeutigkeit zugelassen wird. Durch die Perspektiven, die ich gewählt habe, in der wir auch die Gedankenwelt der Prot­ago­nis­t*in­nen mitbekommen, wird uns als Le­se­r*in­nen noch mehr eröffnet. Trotzdem ist man konfrontiert mit dem Aufeinanderprallen der verschiedenen Perspektiven. An manchen Stellen fehlen dann Informationen und eine Mehrdeutigkeit bleibt stehen.

Welche Rolle spielen soziale Medien für den Protest in der Türkei?

Eine ziemlich große. Für meinen Roman ist die Bedeutung der Anonymität sehr groß. Die führt dazu, dass Verknüpfungen und Verbindungen entstehen können, wo sie normalerweise nicht möglich wären. Das Internet ist ein Ort, wo wirklich ungefiltert gesprochen werden kann. Wenn Regime autoritär und repressiv agieren, werden die Räume, an denen das möglich ist, immer kleiner und drohen zu verschwinden. Zugleich können über das Internet leicht Falschinformationen verbreitet werden. Die Kommunikation über soziale Medien hat extreme Vor- und Nachteile.

Ihr Buch wird oft als politischer Roman bezeichnet. Teilen Sie diese Einschätzung?

Satzwende. Lesung mit Anna Yeliz Schentke: Di, 14. 2., 20 Uhr, Bremen, Falstaff, Leibnizplatz

Womit ich mich nicht identifizieren würde, wäre die Annahme, dass das Geschriebene eine bestimmte Position vermitteln soll. Mein Roman zeigt vielmehr, und das macht ihn vielleicht politisch, Widersprüche und Gegensätze auf und lässt die auch so stehen. Er hat nicht den Wunsch nach einer Auflösung, sondern regt Gedanken über das Zusammenleben und das Verhältnis zum Staat an.

Was kann ein Roman in dieser Hinsicht besser als andere Darstellungsformen?

Das ist eine große Frage. Man hat natürlich eine Fiktionsfreiheit, die eine wesentlich größere Spanne an Möglichkeiten der Verwirrung, Gegenüberstellung, Irritation bietet und die Sprache in gewisser Weise materiell werden lässt. Literatur ist für mich dann gelungen, wenn diese Form der Materialisierung von Sprache einen Effekt hat, der sich zu dem verhält, was erzählt wird.