Amazon darf Beschäftigte dauerüberwachen: Leistungsdaten als Beifang

Das Verwaltungsgericht hat Amazon erlaubt, die Arbeit der Beschäftigten im Lager in Winsen ununterbrochen zu erfassen – trotz Datenschutzbedenken.

Menschen in Warnwesten laden am Ende von langen Rutschen Pakete um

Die Maschine gibt den Takt vor, der Arbeitgeber kontrolliert: Amazon-Sortierzentrum in Garbsen Foto: Peter Steffen/dpa

WINSEN/LUHE taz | Amazon darf die Mitarbeiter in seinem Logistikzentrum in Winsen/Luhe weiterhin engmaschig überwachen. Das hat das Verwaltungsgericht Hannover am Donnerstag in einer Sitzung vor Ort entschieden.

Das Gericht befasste sich mit einer Klage von Amazon gegen die niedersächsische Landesdatenschutzbeauftragte Barbara Thiel. Diese hatte Amazon 2017 untersagt, in seinem Logistikzentrum in Winsen aktuelle und minutengenaue Quantitäts- und Qualitätsdaten seiner Beschäftigten zu erfassen. Amazon tut das, indem es die Warenscans, die die Beschäftigten bei jedem Arbeitsschritt machen, erfasst und auswertet.

Worum es konkret geht, nahm das Gericht bei einem Ortstermin im Amazon-Logistik-Zentrum in Winsen bei Hamburg in Augenschein. In der 100 mal 650 Meter großen Halle arbeiten durchschnittlich 2.000 Menschen daran, Waren entgegenzunehmen, umzupacken und zu versenden. 80 Sortier- und Verteilzentren des Unternehmens werden von hier aus im Wege der Feinverteilung beliefert.

Betriebsleiter Jörn Asmussen versuchte in Rahmen einer Führung plausibel zu machen, warum jeder einzelne Arbeitsschritt in seinem sogenannten „Fulfillment-Center“ dokumentiert werden muss: Der ganze Prozess sei vom Auslieferungstermin beim Kunden her rückwärts gedacht. Heißt: Wenn die Ware zu einem bestimmten Zeitpunkt ankommen soll, muss sie zwei große Schritte weiter hinten in Winsen zu einer bestimmten Zeit in einem Lkw weggefahren werden.

Scannen hilft, Arbeitskräfte zu disponieren

Um diese Zeit einzuhalten, gibt es in Winsen ein ausgeklügeltes System. Mitarbeiter nehmen große Kartons an, scannen sie und packen den Inhalt wiederum in schwarze Transportkisten, die sie ebenfalls scannen. Die Kisten gehen auf dem Band zu anderen Mitarbeitern, die die Waren aus den Kisten nehmen und in Regalpaletten stecken, die von Robotern in einem großen, eingezäunten Areal geparkt und später zum Warenversand gebracht werden. Dort werden die Päckchen mit dem Amazon-Logo gepackt.

Dadurch, dass die Beschäftigten die Ware bei Annahme und Weitergabe scannen und auch die Transportbänder überwacht werden, ist zum einen stets klar, wo sich die Ware gerade befindet – und zum anderen kann Amazon seine Arbeitskräfte besser disponieren. Mal komme besonders viel Ware herein, mal müsse besonders viel ausgeliefert werden – durch die Erfassung könnten Arbeitskräfte von der einen Stelle abgezogen und anderswo hingeschickt werden. „Wir müssen das während des Tages immer wieder neu austarieren“, sagte Betriebsleiter Asmussen. Das Austarieren sorge im Übrigen für einen ruhigeren Arbeitsablauf, mithin weniger Stress für die Mitarbeiter.

Dabei berücksichtige Amazon auch, wie schnell und gut ein Beschäftigter aktuell an einer bestimmten Stelle arbeitet, um Bereiche zu verstärken oder um Teams auszubalancieren. Wie der Durchsatz an verschiedenen Arbeitsplätzen ist, lässt sich ebenso wie der Betriebszustand des ganzen Logistikzentrums in einer Zentrale mit acht großen Bildschirmen sehen – dem Flow. Hier lässt sich die Leistung jedes Arbeiters ablesen und dokumentieren, was Amazon auch für wiederkehrende Feedback-Gespräche nutzt. Auch bei Vertragsverlängerungen spielen diese Daten eine Rolle.

Ohne das Kontrollsystem bricht die Produktivität ein

Dass diese Art der Organisation für Amazon vorteilhaft ist, stand auch für das Gericht außer Frage. Die Vorsitzende Richterin Andrea Reccius verwies auf eine Amazon-Zahl aus den USA: Als das FCLM genannte System in einem dortigen Zentrum einmal ausgefallen sei, habe das die Produktivität um 27 Prozent gedrückt. Fraglich ist bloß, ob dieser Vorteil einen derart weitreichenden Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung rechtfertigt. Die Datenschutzbeauftragte bezweifelt das.

In die Bredouille brachte sich ihre Behörde damit, dass sie das ununterbrochene Erheben von Daten mittels der Scanner untersagt hatte. Was sich denn die Behörde als Alternative vorstelle, wollte das Gericht wissen. Mit einer Unterbrechung für eine Hundertstelsekunde wäre sie ja wohl kaum zufrieden.

Es sei nicht Aufgabe der Behörde, hier Vorschläge zu unterbreiten, antwortete deren Anwalt Marcus Helfrich. Solche Vorschläge würden das Unternehmen ja viel stärker einengen als eine schlichte Untersagung, die es Amazon ermögliche, selbst einen Weg zu finden, um einen rechtssicheren Zustand herzustellen.

Amazon sieht sich freilich auf der sicheren Seite: Die Überwachung sei keineswegs beabsichtigt und allenfalls ein Nebeneffekt, argumentierten die Anwälte des Unternehmens. Es würden nur Leistungsdaten erhoben, die Privatsphäre der Arbeiter sei nicht betroffen.

Die Vertreter der Datenschutzbeauftragten wiesen darauf hin, dass Zeugen zufolge nicht allen Mitarbeitern das Ausmaß der Datenerhebung bewusst sei. Außerdem beziehe sich die Leistungserhebung auf das persönliche Beschäftigungsverhältnis und müsse daher verhältnismäßig sein. „Wir brauchen eine Begründung dafür, warum eine minutengenaue Erfassung notwendig ist und ob es auch anders ginge“, sagte Helfrich. Eine minutengenaue Überwachung widerspreche den Grundlagen des deutschen Arbeitsrechts. Danach seien Beschäftigte eben nicht verpflichtet, ständig 100 Prozent Leistung zu bringen.

Richterin Andrea Reccius

„Einfach nur zu behaupten, es gebe einen Anpassungs- und Leistungsdruck, reicht nicht“

Demgegenüber verlangten die Amazon-Vertreter von der Datenschutzbeauftragten, sie müsse zeigen, dass es einen übermäßigen Überwachungsdruck gebe. Ähnlich äußerte sich auch die Richterin: „Einfach nur zu behaupten, es gebe einen Anpassungs- und Leistungsdruck, reicht nicht“, sagte Reccius. Der Verweis auf einen Fernsehbeitrag sei dafür nicht ausreichend.

„Es gibt viele verschiedene Überwachungsprogramme“, sagte die Richterin. „Jeweils ist die psychische Belastung unterschiedlich.“ Bei relativ einfacher Arbeit sei die Angst Studien zufolge nicht so groß wie bei kreativen Tätigkeiten. Auch sei das Mitschneiden von Telefonaten anders zu bewerten als das Erfassen von Scans.

Die Landesdatenschutzbeauftragte kann Berufung gegen das Urteil einlegen.

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