Steffi Lemke über Naturschutz: „Es braucht kein Machtwort“

Die FDP will beim Straßenbau auf Umweltprüfungen verzichten. Autobahnen dürfen nicht über dem Naturschutz stehen, sagt dagegen Umweltministerin Steffi Lemke.

Bundesumweltministeriun Steffi Lemke im sechsten Stock des Bundesumweltministerium in Berlin

Will schnell marode Brücken und Straßen sanieren: Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) Foto: Stefan Boness/Ipon

taz: Frau Lemke, fahren Sie gerne Auto?

Steffi Lemke: Ich fahre zwischen Berlin und Dessau, meiner Heimatstadt, sehr häufig mit dem Zug hin und her. Ab und zu benutze ich auch das Auto.

Ist das eine Strecke mit Staugefahr?

ist 1968 geboren und seit Dezember 2021 Bundesumweltministerin. Die Agraringenieurin war Mitbegründerin der Grünen Partei in der DDR und von 2002 bis 2013 Bundesgeschäftsführerin der Grünen.

Das kommt darauf an, zu welcher Zeit Sie dort fahren. Es gibt dort vor allem aufgrund etlicher Dauerbaustellen auch häufig Staus.

Ist das eine Sache, die die Planungsbeschleunigung von Verkehrsprojekten betrifft, über die Grüne und FDP gerade streiten?

Das würde unter die Frage fallen: Wie schnell können wir unsere Infrastruktur reparieren und sanieren? Ich finde, dass wir uns auf jeden Fall bemühen sollten, den Erhalt von Infrastruktur schneller, unbürokratischer und digitaler hinzubekommen.

Sie sind wie FDP-Bundesverkehrsminister Volker Wissing für die Sanierung von maroden Brücken und Straßen. Wo liegt der Dissens?

Wir haben einen Dissens über die Frage, ob der Neubau von Autobahnen per Gesetz über dem Natur- und Umweltschutz, aber auch über dem Gesundheitsschutz und anderem stehen soll. Diese Verschiebung im Planungsrecht zulasten von Umwelt- und Naturschutz halte ich für falsch. In vielen Punkten sind wir uns allerdings einig. Volker Wissing hat einen Gesetzentwurf erarbeitet, bei dem es auch um die Sanierung der Infrastruktur geht, beispielsweise von maroden Straßen oder Brücken. Das ist ein großes Problem in Deutschland. Daher sollten wir die Sanierung beschleunigen und vorantreiben, damit die bestehenden Verkehrswege funktionsfähig bleiben.

Der Gesetzentwurf von Volker Wissing sieht vor, den Neubau von Autobahnen oder den Ausbau auf sechs oder acht Spuren zu beschleunigen.

Das sind alles Vorhaben, die im Bundesverkehrswegeplan von 2016 beschlossen sind. Für diesen Bundesverkehrswegeplan haben sich die Koalitionsfraktionen auf eine Überprüfung verständigt. Aber auch für Projekte innerhalb dieses Rahmens können wir im Planungsverfahren nicht sagen: Umwelt- und Naturschutzinteressen haben zurückzustehen. Einen Wald oder ein Naturschutzgebiet nicht einmal mehr zu betrachten im Planungsverfahren – das geht nicht.

Aber beim Ausbau der Windkraft geht das ja auch.

Schon im Koalitionsvertrag ist verabredet worden, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien im überragenden öffentlichen Interesse liegt, und wir betreiben Klimaschutz ja auch, um Umwelt und Natur zu erhalten. Aber für den Straßenneubau liegen die Dinge anders und hier sieht der Koalitionsvertrag deshalb das überragende öffentliche Interesse auch nicht vor. Auch nicht für die Verbreiterung von Autobahnen um zwei oder vier Spuren. Es würde auch keinen Sinn ergeben, zu versuchen, alle Projekte in Deutschland gleichzeitig zu priorisieren. Wer alles priorisiert, prio­ri­siert nichts.

Die FDP sagt, Autobahnen sind nicht klimaschädlich, wenn darauf E-Autos fahren.

Natürlich ist die Verbreiterung einer Autobahn um zwei oder um vier Spuren etwas, was Natur und teilweise wertvollen Ackerboden in Anspruch nimmt oder wofür eben Wald weichen muss. Auch Naturschutzgebiete sind dabei oft berührt. Man kann beim besten Willen nicht behaupten, dass schon das keinerlei Auswirkungen auf das Klima hat. Im Übrigen: Der geltende Bundesverkehrswegeplan wurde viele Jahre vor dem wegweisenden Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichts beschlossen. Auch die heute geltenden Ziele des Klimaschutzgesetzes sind darin nicht berücksichtigt.

Wo steht die SPD?

Es hat zu dem Thema Gespräche mit dem Bundeskanzler gegeben. Wir haben versucht, Gemeinsamkeiten auszuloten. Das ist an vielen Stellen gelungen, aber eben nicht an allen. Für mich bleibt die Priorität, beim Bahnausbau schneller zu werden und die marode Infrastruktur möglichst schnell zu sanieren, vor allem die Brücken.

Fürchten oder fordern Sie ein Machtwort des Bundeskanzlers bei diesem Streit?

Ich gehe nicht davon aus, dass dieses Thema ein Machtwort erfordert.

Der grüne Wirtschaftsminister Habeck hat vor Kurzem erklärt, Lückenschlüsse wären okay beim Autobahnbau. Ist er Ihnen damit in den Rücken gefallen?

Es gibt keinen Dissens zwischen Robert Habeck und mir. Lückenschlüsse stehen zu einem großen Teil im Bundesverkehrswegeplan, der ja unter Federführung von Volker Wissing überprüft wird. Mein Petitum ist: Wenn es beim Bau von Lückenschlüssen bleibt, kann das nicht heißen, dass dabei der Umwelt- und Naturschutz außen vor bleibt.

Viele Kli­ma­ak­ti­vis­t:in­nen gehen buchstäblich auf die Bäume, um Autobahnprojekte zu verhindern. Ist die Zivilgesellschaft weiter als die Koalition?

Viele Jahre lang waren Politik und Planungsbehörden im festen Glauben, dass all diese Projekte notwendig, finanzierbar und mit dem Klima- und Naturschutz schon irgendwie vereinbar sind. Diese festgefügte Haltung wird jetzt in Frage gestellt durch die Auswirkungen der Klimakrise und des Artenaussterbens und durch eine junge Generation, die auf die Straße geht. Umso mehr gilt: Wir können nicht bei allem, was vor 20 Jahren einmal angedacht wurde, jetzt plötzlich auf Umwelt-, Lärmschutz und Naturschutz verzichten. Solche Prüfungen schützen ja nicht nur die Natur, sondern vor allem auch die Menschen.

Spüren Sie nach den überraschend großen Protesten rund um die Räumung des Ortes Lützerath im Rheinischen Kohlerevier, die sich auch stark gegen die Grünen richteten, einen besonders starken Druck, sich bei den Autobahnen durchzusetzen?

Der Druck, den ich persönlich spüre, kommt eher aus den schon jetzt deutlich wahrnehmbaren Auswirkungen der Klimakrise. Und die sind enorm. Deshalb ist es gut, dass junge Menschen auf die Straße gehen. Denn solange das mit gewaltfreien Mitteln passiert und niemand zu Schaden kommt, hilft es, die Größe des Problems besser zu erkennen und deutlich zu machen, dass wir nicht mehr viel Zeit für die Lösung haben.

Zurück zur Planungsbeschleunigung: Sind Sie an der Entscheidungsfindung noch aktiv beteiligt?

Im Moment ist das auf die Ebene des Koalitionsausschusses verlagert, in dem ich nicht Mitglied bin.

Als sich die Ampel-Spitzen kürzlich an einem Donnerstagabend trafen und erfolglos über eine Lösung berieten, saßen Sie also in ihrem Büro und haben auf das Ergebnis gewartet?

Was genau ich an dem Abend gemacht habe, weiß ich gar nicht mehr. Aber natürlich habe ich der grünen Verhandlungsseite die nötige fachliche Unterstützung gegeben.

Wie geht es jetzt weiter? Laufen Gespräche oder herrscht Funkstille?

Jetzt wird der nächste Koalitionsausschuss vorbereitet und natürlich wird viel gesprochen. Auf Ressortebene finden aber jetzt keine förmlichen Verhandlungen statt, weil klar ist, dass ich dem Verzicht auf Umwelt- und Naturschutzprüfungen nicht zustimmen kann.

Vor der Berlin-Wahl wird es also keine Einigung geben?

Davon ist auszugehen.

Aus Rücksicht auf die Berlin-Wahl?

Wegen der Komplexität des Problems.

Könnte es am Ende eine Paketlösung geben, in der das Thema mit anderen vermengt wird?

Noch mal: Viele Aspekte des Gesetzentwurfs, der auf dem Tisch liegt, sind sinnvoll. Es wäre von meiner Seite aus sofort möglich, den Ausbau der Bahn und der Infrastruktur zu beschleunigen, die wir für die Klimaneutralität brauchen. Wir könnten auch die schnellere Sanierung von Brücken auf den Weg bringen oder den Radwegebau verbessern. Wir könnten das nächste Woche im Kabinett beschließen. Wir sollten nicht die sinnvolle Beschleunigung in Geiselhaft nehmen für Probleme, bei denen wir uns nicht einigen können.

Die FDP hätte dann keinen Hebel mehr, um Sie bei den strittigen Punkten auf die andere Seite zu ziehen.

Ich kann nur sagen: Was sinnvoll ist und gemeinsam angegangen werden kann, sollte man möglichst schnell angehen und nicht ausbremsen. Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes haben zu Recht die Erwartung, dass wir verlässlich Lösungen auf den Weg bringen.

Was bieten Sie der FDP dafür?

Es kann doch nur darum gehen, gemeinsam konstruktive Lösungen für Probleme zu identifizieren, um unser Land voranzubringen und die Zukunft für unsere Kinder und Enkel zu sichern. Es geht nicht darum, sich gegenseitig Geschenke zu machen.

Wie oft denken Sie bei all dem Hickhack: Ach, hätten wir Grüne doch das Verkehrsministerium?

Gar nicht. Ich bin als Ministerin für Umwelt und Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz zuständig. Ich vertrete ein großartiges Ministerium mit einem großen und großartigen Aufgabenbereich.

Haben Sie den Eindruck, dass sich auch die FDP für das Klima verantwortlich fühlt und nur andere Instrumente wählt als die Grünen – oder fehlt es den Liberalen grundlegend an Problembewusstsein?

Ich glaube, auch dort gibt es unterschiedliche Denkweisen. Bei Volker Wissing, der ja aus einer Winzerfamilie kommt, erlebe ich auf jeden Fall Verständnis für den Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Das übersetzt sich möglicherweise nicht bei allen FDP-Mitgliedern jeden Tag in engagierten Klima- und Naturschutz. Aber wie gesagt, wir arbeiten in der Koalition gemeinsam an zukunftsfähigen Lösungen.

Rächt sich jetzt, dass im Koalitionsvertrag die Verkehrswende vor allem als Antriebswende definiert wurde – vom Verbrenner- zum E-Auto?

Bei Klima- und Naturschutz wurde der Verkehrssektor in den letzten Jahren generell nicht breit genug gedacht. Das spiegelt sich in den Kompromissen des Koalitionsvertrages wider. Dort haben die Beharrungskräfte mit dem gerungen, was aus Klimaschutzgründen notwendig wäre. Und ja, dieses Ringen setzt sich jetzt fort.

Also war es falsch, nicht gleichzeitig zu sagen: Wir wollen die Gesamtanzahl der Autos verringern.

Es wurde ja durchaus umfassender verhandelt. Aber herausgekommen ist ein Kompromiss, den wir jetzt ausgestalten müssen. Koalitionsverträge sind an vielen Stellen nicht detailliert genug, um für vier Jahre eine genaue Handlungsanleitung zu geben. Aber radikale Vorfahrt für den Autobahnneubau steht ausdrücklich nicht im Koalitionsvertrag.

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