Gesellschaftsspiele

THEATER Alles verschweigen – oder alles sagen? Handke und Cotzee bei den Wiener Festwochen

Ein Mann. Eine Frau. Keine Sprache – füreinander jedenfalls. Und keine Gesellschaft. „Außerhalb gleichwelcher Aktualität und gleichwelchen historischen und sozialen Rahmens.“ Wo immer die Uraufführung im Wiener Akademietheater „Die schönen Tage von Aranjuez“ von Peter Handke letztlich hinbeamen mag, es ist immer ein Denkraum vor der Erfahrung. Da liegt das Geschlechterverhältnis begraben als stabile, immerwährende Polarität. Gräbt man noch ein bisschen weiter, hat man gleich das ganze Besteck einschlägigen metaphysischen Denkens beieinander, um den sich die konkrete Vielfalt des Begehrens nie etwas geschert hat und von dem es sich auch auf der Ebene gesellschaftlichen Bewusstseins zunehmend befreit.

Fernab in der überzeitlichen Schönheit spanischer Palastgärten aber trotzen „Der Mann“ (Jens Harzer) und „Die Frau“ (Dörte Lyssewski) der Unübersichtlichkeit und den profanen Zumutungen der Gegenwart. Doch was tun sie fernab der Gesellschaft? Sie spielen ein Gesellschaftsspiel. Der männlich forschende Geist fragt, sie muss wahrhaftig antworten: „Das erste Mal, du mit einem Mann, wie ist das gewesen?“ Man kennt das aus frühen Wohngemeinschaftsabenden. Die Sache birgt durchaus beträchtliches Macht- und Konfliktpotenzial.

Luc Bondy, als Regisseur ein Altmeister der Zwischentöne, des Modulierens und Musizierens des scheinbar Nebensächlichen, ohne das aber auf einer Bühne nichts ist, war offensichtlich unwohl mit so viel metaphysischer Spekulation und hermetischer Poesie im Gepäck. Er verlegt die ganze Sache in ein alltägliches Situationskorsett, ohne die Angelegenheit damit wie erhofft mit Empirie zu füllen. Handkes Titel verweist auf eine Zeile im „Don Karlos“, das ganze Spiel wird kurzerhand zum Probenpausenfüller. Amina Handke hat dazu die rückwärtige Sicht auf den Vorhang auf die Bühne gebaut. Theater im Theater, das behauptet Selbstreflexion und löst sie einmal mehr nicht ein.

Jens Harzers darf dafür einen Jacques-Tati-haften Clown geben. Der Frau ist er eine vergleichsweise milde Fragemacht. Der liebenswürdige Faxenmacher zieht die Zögernde immer wieder ins Spiel zurück, mehr nicht. Doch kaum hat „Die Frau“ begonnen, sich zu erinnern und Erinnerung preiszugeben, bringt der sanguinische Fliegenfänger, ohne so recht zuzuhören, die zweite Irrtumsbrille mit ins Spiel, durch die wir über gut 150 Jahre hinweg die Geschlechter betrachtet haben: die Biologie. Wo sie sich der schmerzenden Selbstbefragung endlich nähert, preist er die Botanik der Gärten mit aller Liebe der Detailbeobachtung für die vielen kleinen Schönheiten einer als göttlich empfundenen Schöpfung und ihrer Nachschöpfung durch eine ingeniöse menschliche Gartengestaltung.

Eher beiläufig erzählt die Frau, was vielleicht wichtig sein könnte. Aber nach Jahrzehnten des öffentlichen Beichtzwangs unter den Auspizien der sexuellen Befreiung zieht sie es eigentlich vor zu schweigen. An diesem Punkt könnte ein Stück beginnen.

Zwei Tage nach diesen Gesten des Verschweigens ein Theater, das alles sagen, alles zeigen will und sich damit ungewollt zum Komplizen des Gezeigten macht. Kornél Mundruczó, mehrfacher Gast bei den Festwochen, hat mit seiner Budapester Gruppe J. M. Coetzees Roman „Schande“ bearbeitet. Ein Literaturprofessor aus der Stadt verliert seinen Job wegen eines Verhältnisses mit einer Studentin, seine lesbische Tochter lebt als Farmerin auf dem Land, wird von einer Gruppe Schwarzer vergewaltigt. Sie wird schwanger, fügt sich in ihr Schicksal, lebt besitzlos unter den schwarzen Nachbarn und büßt für die Sünden der rassistischen Vorväter. Die Umkehr des burischen Erwählungsglaubens. Eingeschrieben sind die Sünden in die unschuldige Kreatur, die Hunde der geflohenen Weißen müssen sterben, keiner kann sie mehr gebrauchen, sie sind auf Schwarze abgerichtet.

In früheren Arbeiten verhandelte Mundruczós Theater exzessive Gewalt an der Grenze der Sichtbarkeit und machte sie damit in der Wahrnehmung noch verstörender. „Schande“ dagegen paniert unter Geschrei die weiblichen Ensemblemitglieder nackt in der Blumenerde und setzt auch sonst mit dem großen Zeige-Phallus auf Schockmomente. Ein Theater, das nur noch treffen will und ohne Distanzierungsmoment alles zeigt. Es wacht nach seinem Rausch an sich selbst in der Affirmation auf.

UWE MATTHEISS