Kipping über Berlin und die Linke: „Time of my Life“

Katja Kipping ist Sozialsenatorin in Berlin und will das nach der Wahl bleiben. Ein Gespräch über ihren Job – und den desolaten Zustand der Linken.

Portrait von Katja Kipping.

„Man kann in mehreren Vereinen sein, aber man muss sich für eine Partei entscheiden“: Katja Kipping Foto: Eventpress Golejewski/imago

taz: Frau Kipping, machen Sie sich Sorgen um Ihren Job?

Katja Kipping: Ich bin recht zuversichtlich, dass wir nach der Wahl weiterhin soziale Mehrheiten haben werden in Berlin.

Was macht Sie da so zuversichtlich? Der Bundestrend spricht dagegen, die Linke steht bei 5 Prozent.

Hier in Berlin sind wir zweistellig. Die Berliner Linke macht hier den Unterschied. Das spricht sich rum bei den Menschen.

Jahrgang 1978, ist seit Dezember 2021 Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales in Berlin. Die gebürtige Dresdnerin saß davor ab 2005 für die Linke im Bundestag, von 2012 bis 2021 war sie gemeinsam mit Bernd Riexinger Bundesvorsitzende der Partei.

Welchen Unterschied?

Ohne uns würden die Ärmsten vergessen. Wir haben das reduzierte 9-Euro-Sozialticket durchgesetzt. Ohne die Berliner Linke wäre kein Härtefallfonds aufgelegt worden, der einspringt, wenn Menschen ihre Energierechnung nicht bezahlen können. Ohne die Berliner Linke wäre kein Tariftreuegesetz gekommen, das sicherstellt, dass sich bei der öffentlichen Vergabe nur Unternehmen bewerben können, die die Branchentarifverträge einhalten. Ohne uns wäre das Ergebnis des Volksentscheids Deutsche Wohnen & Co. enteignen unter den Tisch gefallen. Dann wäre keine Expertenkommission gegründet worden, die deutlich macht, dass Vergesellschaftung möglich ist.

Franziska Giffey lehnt Letzteres ab. Wie können Sie denn persönlich mit der Regierenden Bürgermeisterin?

Genau wie Klaus Lederer finde ich diese Position von Franziska Giffey komplett falsch. Ich meine: Deutsche Wohnen muss gehen, damit viele Mieterinnen und Mieter bleiben können. Doch zum persönlichen Umgang: Wir kannten uns ja vorher nicht persönlich. Aber ich muss sagen: Der Krieg gegen die Ukraine, die Zehntausenden Geflüchteten, die wir hier versorgen müssen, das hat uns zusammengebracht. Wir wissen, wo wir unsere politischen Differenzen haben, aber wir wissen auch, wie wir in Krisen schnell zu belastbaren Lösungen kommen können. Wir respektieren uns gegenseitig.

Sie sind federführend zuständig für die Versorgung der Geflüchteten aus der Ukraine. Wie haben Sie Ihr erstes Jahr als Senatorin erlebt?

Politisch war dieses Jahr verheerend, mit dem Ukrainekrieg, Pandemie, mehr Armut. Jedem und jeder Geflüchteten, die hier ankommt, ein Obdach anzubieten – das ist ein verdammter Knochenjob. Und ich muss trotzdem sagen, arbeitsmäßig war es für mich the Time of my Life, weil wir in schwierigen Zeiten was bewirken konnten. Ich würde die Arbeit gerne mit diesem tollen Team hier weiterführen.

Berlin hat rund 100.000 Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen. Wo sind sie untergebracht?

Die meisten sind noch privat untergebracht. Rund 4.000 leben in landeseigenen Unterkünften.

Also ein Bruchteil. Wie lange können Sie noch auf die Solidarität der Ber­li­ne­r:in­nen setzen, die Geflüchtete privat aufnehmen?

Wenn die Menschen das nicht mehr schaffen, sind wir als Land in der Pflicht, die Geflüchteten unterzubringen. Das tun wir auch. Aber ehrlich gesagt: Das, was wir gerade im Angebot haben, sind Plätze in Sammel- und Gemeinschaftsunterkünften. Und davon müssen wir ständig mehr Plätze schaffen, denn wir haben ja parallel auch einen deutlichen Anstieg bei den Asylsuchenden aus anderen Ländern.

Rechnen Sie mit einem weiteren Anstieg von Geflüchteten aus der Ukraine im laufenden Winter?

Damit muss ich immer rechnen. Wir beobachten gerade, dass wieder mehr Menschen aus der Ukraine an den Berliner Bahnhöfen ankommen. Pro Tag sind es 300 bis 350, vor dem Winter kamen durchschnittlich 200 Menschen pro Tag.

Werden Menschen wieder in Turnhallen untergebracht?

Das ist das, was wir vermeiden wollen.

Sie wollen es vermeiden, aber Sie schließen es nicht aus?

Wir haben uns als Berliner Senat darauf verständigt: Das machen wir nicht.

Der Flüchtlingsrat sagt: Die Leichtbauhallen am ehemaligen Flughafen Tegel sind ein netteres Wort für Zeltstädte. Ist die Unterbringungspolitik des Berliner Senats gescheitert?

Das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten hat 31.700 Plätze in festen Unterkünften, dabei nicht mit eingerechnet sind die großflächigen Sammelunterkünfte. Das sind so viele Plätze wie noch nie. Dort sind sowohl Geflüchtete aus der Ukraine als auch Asylsuchende untergebracht. Zusätzlich haben wir für diesen Winter 1.500 Plätze im laufenden Hostel- und Hotelbetrieb für Geflüchtete angemietet. Doch wegen des Anstiegs der Ankunftszahlen brauchen wir leider auch Sammelunterkünfte. Es wäre total schön, für jeden Geflüchteten eine Wohnung zu haben. Aber da macht der Flüchtlingsrat die Rechnung ohne den angespannten Wohnungsmarkt. Schon jetzt bewerben sich auf eine Sozialwohnung fast zehn Berechtigte. Wir brauchen ergo mehr bezahlbaren Wohnraum. Es ist nicht genügend bezahlbarer Raum gebaut worden.

Eine Kritik an der Berliner Baupolitik? Die verantwortet die SPD.

Es reicht nicht, mit der privaten Bauwirtschaft nett zu reden. Wir brauchen andere Instrumente, die das öffentliche Bauen von dauerhaft bezahlbarem Wohnraum stärker fördern. Dazu hat die Berliner Linke ein Konzept zum öffentlichen Bauen vorgeschlagen, um innerhalb von zehn Jahren 75.000 Wohnungen zu schaffen. Diese Wohnungen sollen dauerhaft bezahlbar bleiben, mit 7 bis 7,50 Euro Miete pro Quadratmeter. Für die sechs landeseigenen Wohnungsunternehmen braucht es einen öffentlichen Projektentwickler, der durch die Bündelung der Baumaßnahmen auch Marktmacht entwickeln kann.

Als Senatorin für Integration stehen Sie auch wegen eines anderen Themas im Fokus: Die Angriffe auf Rettungs- und Einsatzkräfte in der Silvesternacht. Viele der mutmaßlichen Tä­te­r:in­nen haben Migrationshintergrund. Läuft da was schief in der Integration?

Was auf jeden Fall schieflaufen würde: wenn wir völlig inakzeptable und zu verurteilende Angriffe auf Rettungskräfte zum Anlass nehmen, um eine ganze Generation von Menschen mit Migrationshintergrund unter Generalverdacht zu stellen. Es gibt ein Problem von Armut und Ausgrenzung, das ist nicht pauschal ein Integrationsthema.

Die Linkspartei im Bund hat einen heißen Herbst und Sozialproteste versprochen. Die sind ausgeblieben, weil die Bundesregierung die Preissteigerungen mit Entlastungen abgefedert hat. Statt heißem Herbst nur heiße Luft?

Nein. Allein die Androhung von einem heißen Herbst hat ja offensichtlich Wirkung gezeigt. Am Anfang stand, das haben viele schon vergessen, eine Gasumlage statt eines Gaspreisdeckels.

Der Preisdeckel ist das Verdienst der Linken?

Beweisen Sie mir das Gegenteil.

Ist es also gut, dass die Proteste ausgefallen sind?

Also einige gab es und die Berliner Linke hat auch zu mehreren Demos erfolgreich mobilisiert. Und die Probleme sind ja nicht weg. Die viel zu große soziale Spaltung in diesem Land hat eher noch zugenommen. Wenn wir einen garantierten Schutz vor Armut wollen, braucht es armutsfeste Sozialleistungen und höhere Renten und Löhne.

Das ist aber Aufgabe des Bundes.

Ja, ganz klar. Zugleich ist mein Impuls, nicht Däumchen zu drehen und zu warten, bis der Bund das regelt, sondern zu schauen, was wir auf Landesebene in die Hand nehmen können. Ich strebe zum Beispiel an, das Berliner Sozialticket von 9 Euro über den März hinaus zu verlängern. Wir haben im Haushalt dafür Vorsorge getroffen. Die Entscheidung trifft allerdings der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg.

Schadet der Linken ihre Zerrissenheit auf Bundesebene im Berliner Wahlkampf?

Ich setze darauf, dass die Menschen wissen, dass sich die Berliner Linke um das Wesentliche kümmert, nämlich um ein soziales Berlin voller Kultur und Teilhabe, und dass wir dem Markt die Stirn bieten.

Was funktioniert in der Berliner Linken, was im Bund nicht funktioniert?

Ich formuliere es positiv: Innerhalb der Berliner Linken ringen wir gemeinsam um eine Positionierung, diskutieren da auch kontrovers, und am Ende verständigt man sich und vertritt sie nach außen. In so einer Kultur des Gemeinsamen haben Egotrips zulasten der Partei keine Chance.

Sie meinen Egotrips wie die von Sahra Wagenknecht?

Dieses Beispiel haben Sie genannt, nicht ich.

Wäre es gut, wenn Sahra Wagenknecht die Linke bald verlässt? Sie soll ja eine eigene Parteigründung planen.

Jeder Mensch kann mehrere Liebschaften haben, wenn er mag, aber nur mit einer Person verheiratet sein. Und genauso ist es bei einer Partei. Man kann in mehreren Vereinen sein, aber man muss sich für eine Partei entscheiden.

Wie sollte Wagenknecht sich entscheiden, soll sie weiter mit der Linken verheiratet sein oder nicht?

Ich werde nicht mit einem markigen Zitat auf das Aufmerksamkeitskonto von einem möglicherweise alternativen Parteiprojekt einzahlen.

Sie waren neun Jahre Bundesvorsitzende der Linken. Welche Schuld tragen Sie an dem desolaten Zustand Ihrer Partei im Bund?

Neun Jahre lang habe ich alles gegeben, damit die Linke eine moderne sozialistische Partei auf der Höhe der Zeit ist, die nicht mehr das SED-Manko hat. Und wir haben viele Fortschritte erzielt, die leider zum Teil wieder eingerissen worden sind.

Also keine Versäumnisse von Ihrer Seite?

Eine Bilanz habe ich für mich selbst gezogen. Aber jetzt ist nicht der Zeitpunkt, diese öffentlich zu machen.

Haben Sie Pläne, falls Sie nicht Senatorin bleiben sollten?

Es ist ja kein Geheimnis, dass ich gerne weitermachen würde. Und zugleich gibt es in mir auch eine Abenteurerin. Wenn die Wahl anders ausgehen sollte, dann habe ich als Mittvierzigerin noch mal die Chance, das Drehbuch ganz neu zu schreiben.

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