Prozess gegen Flüchtlingshelfer: Warten auf ein freies Leben

Wer vor der griechischen Küste Menschenleben rettet, muss mit Anklagen und Gefängnis rechnen. So wie Rettungstaucher Sean Binder.

Mitglieder einer Hilfsorganisation empfangen Geflüchtete an der griechischen Küste

Empfangen Geflüchtete an der griechischen Künste: Mitglieder des ERC im Februar 2016 Foto: Aris Messinis/afp/Getty Images

BERLIN taz | Sean Binder sitzt in seiner Londoner Wohnung am Küchentisch, das Licht scheint durchs Fenster auf sein Gesicht, eine schwarze Katze läuft immer wieder vor die Zoomkamera. „Was ich jetzt mache?“, fragt er. „Warten. Ich werde jetzt warten.“

Genau wie in den fünf Jahren zuvor: Warten auf Entlassung aus der Haft, warten auf die Anklage, warten auf einen Prozesstermin, auf die Verhandlung, das Urteil. Aus der Untersuchungshaft wurde Sean Binder 2018 entlassen, trotzdem kann er bis heute nicht frei über sein Leben bestimmen.

Es geht um ein Verfahren, das „Handlungen kriminalisiert, die Menschenleben retten“, so beschrieb es am 10. Januar Liz Throssell, die UN-Menschenrechtsbeauftragte. Da verhandelte ein Gericht auf der griechischen Ägäisinsel Lesbos zum ersten Mal gegen Binder und 23 weitere Angeklagte. Sie alle waren aktiv beim Emergency Response Centre (ERC), einer kleinen griechischen NGO, die es mittlerweile nicht mehr gibt.

Sie halfen Flüchtlingen, die mit Booten nach Lesbos kamen. Die Vorwürfe der griechischen Staatsanwaltschaft könnten die Ak­ti­vis­t:in­nen für Jahrzehnte ins Gefängnis bringen.

Unglück an der Küste

Binder hat einen deutschen Pass, wuchs in Irland auf, machte eine Ausbildung als Rettungstaucher. 2017, er war 21, unterbrach er sein Studium, um als Freiwilliger nach Griechenland zu gehen. Was er dort tat, schildert Binder so:

„Jede Nacht verlief gleich. Ich stand auf dem Felsen und schaute auf das Wasser.“ 16 Kilometer sind es von dieser Stelle an der Südwestspitze von Lesbos bis zur türkischen Küste. Um Mitternacht begann Binder seine Schicht, um 7 Uhr früh endete sie. Er nahm einen Erste-Hilfe-Rucksack mit, aber das Wichtigste waren seine Ohren: „Die Schmugglerboote haben kein Licht, und niemand an Bord, der weiß, wie man navigiert. Aber wenn sie sich der Küste nähern, hört man Schreie.“

433 Menschen starben 2018 in der Ägäis. Anders als im zentralen Mittelmeer, wo die Wege viel weiter sind, verunglückten viele bei der Ankunft an der Küste.

„Wenn wir der Meinung waren, dass wir ein Flüchtlingsboot entdeckt hatten, haben wir die Küstenwache und unser eigenes medizinisches Team alarmiert“, erklärt Binder. Das ERC hatte ein kleines medizinisches Zentrum im Süden der Insel errichtet. Von dort rückten die Hel­fe­r:in­nen aus. „Wenn man erst Hilfe aus der Inselhauptstadt angefordert hätte, hätte das zu lange gedauert.“ Und so waren die Hel­fe­r:in­nen um Binder schnell vor Ort. Bis zum 21. August 2018.

An jenem Tag begann die Polizei damit, Mit­ar­bei­te­r:in­nen von drei NGOs auf Lesbos zu verhaften – darunter das ERC. Die NGOs hätten „systematisch die Überfahrt von Migranten von der Türkei nach Lesbos unterstützt und diesen so bei der illegalen Einreise nach Griechenland geholfen“. Dabei hätten sie auch mit organisierten Schleppern zusammengearbeitet, behauptete die Polizei.

Unter den Verhafteten war auch die ehemalige syrische Leistungsschwimmerin Sarah Mardini, die mit Binder beim ERC aktiv war. „Ich hatte Glück, mit ihr verhaftet zu sein“, ist Binder sich sicher. Denn Mardini war damals schon berühmt – und wurde es seither noch mehr.

Netflix-Serie über Mitaktivistin

Sie floh mit ihrer Schwester Yusra im August 2015 über die Türkei nach Griechenland. Dafür setzten sie sich mit 18 weiteren Flüchtlingen in ein Schlauchboot. Der Außenbordmotor fiel aus, das überfüllte Boot drohte zu sinken. Mit weiteren Insassen, die schwimmen konnten, zogen die beiden Schwestern das Boot über mehrere Stunden bis an das Ufer von Lesbos.

Sarah und Yusra Mardini zogen nach Berlin, trainierten dort weiter, Yusra war 2016 Teil der Flüchtlingsmannschaft bei Olympischen Spielen in Rio de Janeiro und 2020 in Tokio. Die Schwestern bekamen Asyl in Deutschland. Sarah ging im Herbst 2016 nach Lesbos zurück – und engagierte sich dort beim ERC.

Ein Mann zeigt mit zwei Fingern das Victory-Zeichen

Sean Binder im Jahr 2018 Foto: Panagiotis Balaskas/AP/dpa

Netflix hat die Geschichte der beiden verfilmt. „Die Schwimmerinnen“ hatte im September 2022 beim Filmfest von Toronto Premiere, im November kam der Film in die deutschen Kinos.

„Netflix hat uns die Möglichkeit gegeben, unsere Geschichte auf einer größeren Plattform zu erzählen“, sagt Binder etwas umständlich. „Das war eine Möglichkeit, Migration anders zu schildern.“

Größer schätzt Binder aber den Einfluss von Human Rights Watch und Amnesty International ein. Die befassten sich intensiv mit dem Fall und starteten Kampagnen. „Wenn die das nicht gemacht hätten, wären wir immer noch in U-Haft.“

Mardini und Binder waren im Kory­dallos-Gefängnis in Athen gelandet, wo sie 106 Tage in Untersuchungshaft blieben. Gegen eine Kaution von 5.000 Euro konnten sie Griechenland verlassen.

Gegen Mardini verfügte Griechenland eine Einreisesperre wegen „Sicherheitsbedenken“ – zum Verfahren durfte sie nicht kommen. Achtmal hat sie dagegen Widerspruch einlegen lassen, ohne Erfolg. Gerechtfertigt hätten die Behörden ihre Entscheidung nie, sagt Binder. „Sehr schmerzhaft“, sei für Mardini gewesen, dass sie sich nicht selbst verteidigen konnte. Mardini, die in Berlin lebt, gibt keine Interviews mehr. Ihr Zustand sei nicht gut, heißt es.

In Griechenland hat die Justiz die Vorwürfe gegen die Hel­fe­r:in­nen in separate Verfahren aufgeteilt. Eins behandelt Ordnungswidrigkeiten und das andere Verbrechen. Bei der Verhandlung am 6. Januar waren die Ordnungswidrigkeiten dran: Fälschung, illegale Nutzung von Funkfrequenzen, Spionage. Als Verbrechen werden den 24 Geldwäsche, die Bildung einer kriminellen Organisation und Beihilfe zu illegalen Einreise vorgeworfen.

Aber die Aufteilung macht stutzig. Praktisch überall auf der Welt ist Spionage ein schweres Vergehen – hier nur eine Ordnungswidrigkeit?

„Sie haben jetzt einfach die Straftatbestände als Ordnungswidrigkeit beschleunigt verhandelt, die nach fünf Jahren verjähren“, erklärt Binder. Das wäre im kommenden Februar passiert. Also musste die Justiz handeln, nachdem der erste angesetzte Termin im November 2021 wegen Formfehlern ausgefallen war.

Keine Anwaltslizenz für Seenotretter

Am 10. Januar sprach das Gericht die Angeklagten vom Vorwurf der „illegalen Nutzung von Funkfrequenzen“ frei. Die Vorwürfe der Fälschung und der Spionage verwies es zurück an die Staatsanwaltschaft. Es gilt als ausgeschlossen, dass die vor Ablauf der Verjährungsfrist einen neuen Prozesstermin durchsetzt. „Im Grunde sind diese Dinge fallen gelassen worden“, sagt Binder. Bleiben die „Verbrechen“.

Für jeden einzelnen Fall der „Beihilfe zur illegalen Einreise“ können bis zu 20 Jahren Haft verhängt werden – und es geht um Hunderte Fälle. Die Angeklagten versuchen sich untereinander zu koordinieren, berichtet Binder. Einfach sei das nicht. Bei rund einem Drittel handelt es sich um Griech:innen, die im Land geblieben seien. Die anderen sind über viele Orte verstreut.

Der Fall von Binder und Mardini ist besonders bekannt. Doch die rechtlichen Verfolgungen humanitärer Hel­fe­r:in­nen häufen sich: „Das feindselige Umfeld, in dem Menschenrechtsverteidiger in Griechenland arbeiten, gibt seit mehreren Jahren Anlass zur Sorge“, erklärt die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mi­ja­to­vić. Die Verfolgung von Menschen, die sich solidarisch engagieren, sei „mit den internationalen Verpflichtungen der Staaten unvereinbar und hat eine abschreckende Wirkung auf die Menschenrechtsarbeit“, führt sie weiter aus.

„Das Verfahren, die Kampagne, das nimmt mein ganzes Leben in Anspruch“, sagt Binder. Er würde sich „gern um meine Zukunft kümmern“. Er hat in London Jura studiert und seinen Abschluss gemacht. Nun will er als Anwalt arbeiten. Doch das geht nicht. Gegen wen ein Strafverfahren läuft, der bekommt keine Lizenz.

Binder müsste eine Anhörung beim „Wohlverhaltenskomitee“, der Schlichtungsstelle des Anwaltsgerichtshofs in London, durchlaufen. „Man hat mir sehr davon abgeraten“, begründet Binder, dass er das noch nicht hat. Die Wahrscheinlichkeit sei sehr hoch, dass er danach über Jahre für den Anwaltsberuf gesperrt sei.

Sicherer sei, einen Freispruch abzuwarten. Er hofft, dass Bewegung in die Sache kommt, nachdem die „Ordnungswidrigkeiten“ fallen gelassen wurden und sich der Europarat und die UN zu dem Verfahren geäußert und die Angeklagten unterstützt haben. Doch ob das den Anwaltsgerichtshof wirklich beeindruckt, weiß niemand.

So lange heißt es für Sean Binder: warten. Eine Weile arbeitete er in einem Bioladen, dann bekam er ein Stipendium für ein rechtswissenschaftliches Forschungsprojekt. Es gibt eine Webseite für die Solidaritätskampagne mit Binder, Mardini und den anderen Angeklagten. „Free Humanitarians“ heißt sie, im Impressum steht eine Berliner Adresse. Die in Kreuzberg ansässige NGO Borderline Europe steht dahinter. „Sie kümmern sich um die Spendensammlung“, erläutert Binder. „Das ist viel besser, als wenn wir in eigener Sache selber Geld sammeln würden.“

Bis 2038 kann sich die Justiz Zeit lassen. Erst dann verjähren auch die übrigen Vorwürfe. Aber bisher ist unklar, ob und wann. „Hoffentlich passiert das vor 2038“, wünscht sich Binder. Die Verfahren so zu verschleppen, wie es schon jetzt geschehen sei, hält er für eine „Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien.“

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