Proteste gegen Justizreform in Israel: Immer wieder samstags

In Israel gibt es viel Protest gegen die geplante Justizreform. Dagegen protestieren Menschen, die politisch sonst nicht viel verbindet.

Menschen mit Israelfahnen protestieren

Protest gegen die Politik der neuen rechts-religiösen Regierung am 21. Januar in Tel Aviv Foto: Corinna Kern/reuters

TEL AVIV taz | Wer in diesen Tagen samstagabends im Zentrum von Tel Aviv unterwegs ist, taucht in ein weiß-blaues Flaggenmeer ein. Bei den Protesten gegen die Pläne der neuen rechts-religiösen Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wehen Tausende von Fahnen über den Köpfen der Demonstrant:innen. Einige haben sich in die Fahne ihres Landes eingewickelt.

Die Israelflaggen sind mittlerweile zur Standardausstattung bei Demonstrationen gegen die von Netanjahu angeführten Regierungen geworden – seit er mit rechts­extremen Parteien eine Koalition gebildet hat, umso mehr. Die Fahnen illustrieren den Kampf um die Definitionshoheit über die Frage: Wer bestimmt, was dieses Land sein soll? Und sie markieren den Versuch, den von Netanjahu gekidnappten Diskurs zurückzuerobern.

Seit Jahren delegitimiert der derzeit in drei Korruptionsfällen vor Gericht stehende Netanjahu sämtliche Menschen, die sich ihm in den Weg stellen, als „links“. Nicht nur jene, die sich selbst als links definieren, sondern auch Medien, die Opposition, die Polizei, Generalstaatsanwälte, selbst rechte Po­li­ti­ke­r*in­nen – und natürlich das derzeit so umkämpfte Oberste Gericht. Dabei ist „links“ zu einem Schimpfwort geworden, gleichbedeutend mit „Betrüger“.

Doch es sind nicht nur Linke, die nun auf die Straße gehen. An den Protesten beteiligen sich auch Liberale – von links bis rechts. Auf Podien sprechen dort Leute wie der frühere Chef der israelischen Streitkräfte und Politiker der liberalen Mitte, wie Moshe Yaalon. Oder jemand, wie der bekannte israelische Autor David Grossman. „Jetzt ist die Stunde der Finsternis“, warnt der Schriftsteller. „Jetzt ist der Moment, aufzustehen und zu rufen: Dieses Land ist in unseren Seelen. Was heute in ihm geschieht, wird bestimmen, was es sein wird und wer wir und unsere Kinder werden.“

Gegen die geplante Justizreform

Die Or­ga­ni­sa­to­r*in­nen der De­monstrationen bemühen sich, den Protest als unpolitisch zu bezeichnen. Sie wollen Fragen ausklammern, die die Einigkeit gefährden könnten. Mitunter aggressiv betonen De­mon­strant*innen, die sich eher rechts verorten, dies seien keine linken Proteste. Die Linken, in Israel mittlerweile eine Minderheit, sagen das Gleiche. Nur in gänzlich anderem Tonfall, mit einer merkwürdigen Gefasstheit, die vielleicht Resignation vorbeugen soll.

Die Strategie des Apolitischen scheint zunächst wirksam. Mehr als 100.000 Menschen zog es am Samstag voriger Woche allein in Tel Aviv auf die Straßen – die größte Demonstration bislang. Auch in anderen Städten protestierten Tausende. Über Twitter gingen Luftaufnahmen der prall gefüllten Straßen viral.

Im Zentrum der Proteste steht die geplante Justizreform, die der neue Justizminister Yariv Levin kurz nach seinem Amtsantritt vorgestellt hat. Das Ziel der Reform: das Oberste Gericht zu entmachten und dem Parlament die Kontrolle über die Ernennung der Rich­te­r*in­nen zu geben. Es wäre ein Schritt, der das Land in ein illiberales System wie in Ungarn oder Polen verwandeln würde. Und die ­Reform könnte – nicht ganz ­nebenbei – den in einem laufenden Verfahren vor Gericht stehenden Netanjahu vor einer möglicherweise drohenden ­Gefängnisstrafe bewahren.

Zur Verhinderung dieser Justizreform ist ein breites politisches Spektrum auf den Straßen dringend nötig. Auch die IT-Branche ist dabei. „Wenn die israelische Demokratie zerbricht“, warnte Einat Guez, eine ihrer erfolgreichsten Managerinnen, „sind auch ausländische Investitionen in israelische Unternehmen bedroht“, bei einer Demonstration über die Lautsprecher.

IT-Branche protestiert

Für das High-Tech-Land Israel könnte dies einen ökonomischen Absturz bedeuten: „Die Start-up-Nation ohne Demokratie kann nicht existieren“, so Guez. Zum ersten Mal in der Geschichte Israels gingen die High-Tech-Beschäftigten am vergangenen Dienstag in den Streik und protestierten auf den Straßen. Auch die Staatsanwälte drohten mit Streik.

Der Protest wächst und nimmt Formen an, die sich als effektiv erweisen könnten im Kampf gegen die Justizreform. Doch in dieser Fokussierung auf die Justizreform sehen einige nur das Bekämpfen von einzelnen Symptomen anstatt der Ursache. „Es gibt keine Demokratie mit Besatzung“, schallt es im Regierungsviertel Tel Avivs durch ein Megafon. Einige Dutzend Menschen rufen im Chor mit, „Palestinian lives matter“ ist auf Schildern zu lesen.

Einer von ihnen ist Matan Kaminer: „Wenn es diesen Block nicht gäbe, wäre ich nicht hier“, sagt er. Hinter ihm weht eine palästinensische Flagge – sie ist zum Ausdruck der Gretchenfrage der Proteste geworden: Wie hältst du’s mit der Besatzung?

Seit Beginn der Demonstrationen vor drei Wochen gibt es Streit um die rot-grün-weiß-schwarze Flagge. Itamar Ben-Gvir, der neue Minister für nationale Sicherheit, strafrechtlich verurteilter Siedlerführer und Chef der rechtsextremen Partei Jüdische Stärke, ordnete an, jede palästinensische Fahne zu konfiszieren, die in der Öffentlichkeit geschwungen wird. Die Fahne zu schwenken, so begründete er seinen Schritt, sei eine Form der Terrorunterstützung.

Streit um palästinensische Fahne

Ben-Gvir hat vor wenigen Wochen qua Gesetzesänderung ein beispielloses Ausmaß an Macht über die Polizei erhalten, aber so leicht macht es ihm diese dann doch nicht. Zumindest bei der Demonstration in Tel Aviv flattern die wenigen Fahnen ungestört im Wind.

Doch rechte Po­­li­­ti­ke­r:in­nen der Opposition sagten ihre Teilnahme an der Demonstration mit der Begründung ab, dass dort palästinensische Fahnen geschwungen werden könnten. Und der Gegen­wind von einigen De­mons­tran­t*in­nen ist mitunter heftig. Für eine Provokation, die bei diesem Protest nichts zu suchen habe, halten sie die Fahne.

Bei den Demonstrationen der vergangenen Wochen wurden einige Ak­ti­vis­t*in­nen mit Palästinenserfahne angegangen. Die palästinensischen Israelis dürften spüren, dass dies – zumindest bislang – nicht ihr Protest ist, und so sind die Proteste bislang jüdisch geblieben.

Für Kaminer steht jedoch fest, dass die Besatzung die Wurzel des Problems ist. „Ehe wir uns dem nicht stellen, haben wir keine Chance, eine wirkliche Demokratie zu haben.“

Befürchtungen der LGBTIQ-Community

Die Friedensbewegung Peace Now sieht das ähnlich. „Die Besatzung besetzt Israel“, prangt auf ihrem Banner. Die Besatzung hat nicht nur für die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen Folgen, soll das heißen, sondern auch für die Israelis: Mit den Gesetzesvorhaben der Regierung könnten Praktiken, die im besetzten Westjordanland angewendet werden, bald auch nach Israel überschwappen, auch dort könnten Bürgerrechte außer Kraft gesetzt, Menschenrechte und grundlegende Prinzipien der Demokratie übergangen werden.

Einige, die das zuerst zu spüren bekommen könnten, sind die Mitglieder der LGBTIQ-Community. Der 15-Jährige Aron etwa, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte. In seinen Händen hält auch er eine Israelfahne, er sorgt sich um seine Zukunft in diesem Land. Zum Beispiel angesichts des sogenannten Diskriminierungsgesetzes, das in der Koalitionsvereinbarung zwischen Netanjahu und der ultrarechten Partei Religiöser Zionismus steht.

Eine Gesetzesänderung soll es Unternehmen und Ärz­t*in­nen ermöglichen, Menschen den Dienst zu verweigern, wenn dies gegen ihre religiösen Überzeugungen verstößt. Betroffen wären wohl vor allem LGBTIQ-Personen.

Kann angesichts solcher Aussichten aus den Protesten eine neue Vision entstehen, die Israel aus seiner politischen Sackgasse holt? Kaminer, der bei der Demonstration im „Palestinian-lives-matter“-Block mitläuft, zögert. Und meint: „Wenn wir diese rechtsextreme Regierung stoppen können, tun sich vielleicht andere Möglichkeiten auf. Bis dahin ist es ein Kampf im ­Notfallmodus.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.