10 Jahre #Aufschrei: „Eine Form der Unterdrückung“

Mit dem Hashtag #Aufschrei trat Anne Wizorek eine Debatte über Sexismus im Alltag los. Wo steht der Feminismus zehn Jahre später? Ein Gespräch.

Eine Frau mit Mikrofon in einer Menschenmenge

Anne Wizorek bei einer Solidaritätskundgebung für die Rechte polnischer Frauen 2018 in Berlin Foto: Foto: Omer Messinger/Epa

taz: Frau Wizorek, Sie haben vor genau zehn Jahren den Hashtag #Aufschrei auf Twitter initiiert, um damit Erfahrungen von Alltagssexismus zu sammeln. Die überwältigenden Reaktionen führten zu einer öffentlichen Diskussion über das Thema in ganz Deutschland. Hat sich in den letzten zehn Jahren auf dieser Ebene etwas verändert?

Anne Wizorek: Das Thema bekommt mehr Raum, das ist positiv. Nichtsdestotrotz sehen wir einen ganz klaren Backlash. Der hat auch mit dem Erstarken von Parteien wie der AfD und rechten Ideologien zu tun. Wir bewegen uns nach vorne, sollen aber gleichzeitig direkt wieder zurückgedrängt werden.

Feminismus wird seit jeher von Antifeminismus begleitet, auch im Digitalen – das ist mit #Aufschrei sichtbar geworden. Sie haben sich damals auch für mehr Aufmerksamkeit für dieses Thema eingesetzt. Erfolgreich?

Definitiv. Ich habe damals im Netz viele Drohungen sexualisierter Gewalt erhalten und musste zur Bewältigung Menschen suchen, die schon Erfahrung damit gemacht hatten. Ich und andere Betroffene hatten sonst keine Hilfsstrukturen, keine Beratung, das öffentliche Bewusstsein fehlte auch. In den letzten zehn Jahren habe ich selbst durch meine öffentliche Aufklärungsarbeit dazu beigetragen, dass sich das ändert. Digitale Gewalt wird allerdings noch nicht ausreichend geahndet.

Im Jahr 2014 erschien Ihr Buch „Weil ein #Aufschrei nicht reicht“. Darin fordern Sie etwa die Rezeptfreiheit der Pille danach oder eine Reform des Sexualstrafrechts. Beides ist tatsächlich eingetreten. Sind Sie zufrieden?

Ich freue mich natürlich, dass die Pille danach seit 2015 rezeptfrei zu haben ist, allerdings basiert das auf einer Entscheidung der EU-Kommission und ist nicht der ehemaligen Bundesregierung zu verdanken. Die wollten das nicht und ich werde Jens Spahns unterirdischen Kommentar niemals vergessen, dass Frauen die Pille danach wie Smarties essen würden, wäre sie rezeptfrei. Bei der Reform des Sexualstrafrechts war und bin ich für eine Implementierung von „Ja heißt Ja“ im Gesetz. Wir haben stattdessen den Grundsatz „Nein heißt Nein“ bekommen. Das war schon ein extrem großer Schritt. Wir sehen seit der Reform, dass bereits diese Veränderung etwas bringt: Die Bereitschaft, sexualisierte Gewalt zur Anzeige zu bringen, ist dadurch gestiegen. Aber wir haben immer noch eine zu geringe Verurteilungsquote, weil sich zum Beispiel in der Justiz Vergewaltigungsmythen hartnäckig halten.

arbeitet als Autorin und Beraterin für digitale Medien. 2018 erschien im Fischer Verlag ihr Buch „Weil ein #aufschrei nicht reicht. Für einen Feminismus von heute“.

Was würde „Ja heißt Ja“ ändern?

Das würde von allen beteiligten Parteien die Verantwortung bedeuten, sexuelle Handlungen nur mit eindeutigem Einverständnis vorzunehmen. Ein enthusiastisches „Ja!“ eben, selbstverständlich ohne Zwang und Nötigung.

Die Bundesfamilienministerin Lisa Paus scheint an der Abschaffung von Paragraf 218 zu arbeiten, also jenem Paragrafen, der Schwangerschaftsabbruch nach wie vor illegalisiert. Bayern droht schon einmal mit Verfassungsklage und in der Welt kommentierte ein Kollege, man solle den Kompromiss von 1993 bloß nicht aufkündigen. Ist jetzt trotzdem der richtige Zeitpunkt?

Ja. Gerade wurde Paragraf 219 a abgeschafft, der nur funktionierte, weil in Paragraf 218 steht, dass Schwangerschaftsabbrüche illegal sind. Im Grunde sind sie das durch die Straffreiheit nicht, deshalb brauchen wir Paragraf 219 a nicht mehr – warum sollten wir dann aber 218 behalten? Körperliche und sexuelle Selbstbestimmung darf kein Straftatbestand sein, den man nach Mord und Totschlag regelt. Es wird zum Glück an einem Selbstbestimmungsgesetz zur geschlechtlichen Identität gearbeitet, dann sollten wir Selbstbestimmung auch überall stärken.

Wobei das Selbstbestimmungsgesetz gerade eher auf Eis liegt. Zuletzt sagte Bundesjustizminister Marco Buschmann, Saunabesuche müssten sicher sein. Das bezieht sich auf das immer wieder vorgebrachte Beispiel, dass sich durch das Selbstbestimmungsgesetz plötzlich beliebige cis Männer als Frauen ausgeben und in die Frauensauna gehen könnten. Kann es für dieses Thema eine Lösung geben?

Kein cis Mann wartet auf das Selbstbestimmungsgesetz, um einen sexualisierten Übergriff zu begehen. Das sind Horrorszenarien, die mich an die Schreckbilder vor der Änderung des Sexualstrafrechts erinnern, als die Formel „Nein heißt Nein“ ins Gesetz kam. Es wurde so getan, als kämen dann alle Männer durch rachsüchtige Frauen in den Knast, in der Zeit beschwor man die „Verrechtlichung des Intimlebens“. Das ist natürlich alles nicht passiert.

Was sind die drei großen feministischen Aufgaben unserer Zeit, die drei großen Nüsse, die noch zu knacken sind?

Um sowohl Sexismus als auch Queerfeindlichkeit zu bekämpfen, müssen wir unter anderem die Ideologie der Zweigeschlechtlichkeit angehen. Zweigeschlechtlichkeit entspricht nicht der Realität, in der wir leben. Dass wir andere Geschlechter gar nicht erst mitdenken, ist eine Form von Unterdrückung. Der wieder zunehmende Biologismus ist eine Rückentwicklung und hat sehr gefährliche Auswüchse. Der Kampf gegen die Klimakrise ist das andere absolut feministische Thema, denn es geht um die Frage, wie wir mit unseren Ressourcen, unserer Lebensgrundlage umgehen. Das dritte große feministische Thema ist die Carekrise. Wie sorgen wir am besten füreinander? In der sogenannten Leistungsgesellschaft müssen wir immer gesund sein, Menschen mit chronischer Erkrankung und mit Behinderung fliegen da schon mal gesellschaftlich raus. Vierzig Stunden die Woche ackern – da bleiben dann gerade Fürsorgeaufgaben auf der Strecke – für Kinder, Beziehungen, Angehörigenpflege, für sich selbst.

Im Jahr 2013 war es noch sensationell, dass Sie Feministin waren. Feminismus war noch ein bisschen kurios und jede wurde nach einem Bekenntnis dazu oder dagegen gefragt. Jetzt gibt es junge, starke Klimaaktivistinnen und Aktivistinnen gegen Rassismus – aber keine neuen Feminist*innen, oder?

Was Sie beschreiben, ist doch ein Erfolg des intersektionalen Feminismus. Da geht es nicht nur um den Aspekt Geschlecht oder Geschlechtergerechtigkeit, sondern das ist verwoben mit Klimagerechtigkeit, mit Antirassismus und anderen Themen. Luisa Neubauer etwa hebt auch immer wieder Geschlechteraspekte der Klimakrise hervor. Das ist eine gute Entwicklung. Für die jüngeren Generationen gehört Feminismus eher zum großen Ganzen dazu. Da haben wir offensichtlich gute Vorarbeit geleistet und können uns vielleicht auch ein bisschen auf die Schulter klopfen.

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Dieser Text ist Teil der Sonderausgabe zum feministischen Kampftag am 8. März 2024, in der wir uns mit den Themen Schönheit und Selbstbestimmung beschäftigen. Weitere Texte finden Sie hier in unserem Schwerpunkt Feministischer Kapmpftag.

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