Arzt zu Rückgang bei Organspenden: „Nichtspenden ist der Normalfall“

Deutschland profitiert von Ländern mit höherer Organspendebereitschaft. Axel Rahmel von der Stiftung Organstransplantation fordert eine neue Debatte.

Ein OP-Saal während einer Organtransplantation

Eine kombinierte Leber- und Milztransplantation im Universitätsklinikum Essen Foto: Andreas Hub/laif

taz: Herr Rahmel, Sie haben in dieser Woche aktuelle Zahlen zu Organtransplantationen veröffentlicht. Gut sehen die nicht aus, oder?

Axel Rahmel: Wir hatten zu Beginn des vergangenen Jahres einen starken Einbruch bei den Organspendezahlen, der sicher auch mit der Coronapandemie zu tun hatte. Ansonsten stagnieren die realisierten Organspenden seit Jahren auf zu niedrigem Niveau.

Und das, obwohl 2020 eine gesetzliche Neuregelung beschlossen wurde, die für mehr Organspenden sorgen sollte.

ist Facharzt für Innere Medizin und Medizinischer Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation, die die Organspenden in Deutschland koordiniert.

Auf der strukturellen Ebene hat sich tatsächlich etwas getan, die Position des Transplanta­tions­be­auf­tragten in den Kliniken wurde gestärkt. Es wurden sogar etwas mehr potenzielle Spender gemeldet. Wenn man sich dann die Fälle anschaut, in denen die Spende nicht realisiert werden konnte, dann ist bei der Hälfte eine fehlende Zustimmung der Grund.

Der potenzielle Spender wollte also keine Organspende?

Das war nur bei einem Viertel der Fall. In über 75 Prozent der Fälle haben die Angehörigen entschieden, weil keine Willensäußerung dazu bekannt war. Und wenn die Familie überhaupt nicht weiß, was der Verstorbene dazu gedacht hat, entscheiden sie sich eher gegen eine Organspende. Das ist in anderen Ländern ganz anders. In Deutschland ist das Nichtspenden der Normalfall.

Dabei ist doch in Umfragen die Zustimmung zur Organspende immer sehr hoch.

In Umfragen stehen tatsächlich über 80 Prozent der Deutschen hinter der Organspende. Es wurden Millionen Organspendeausweise verteilt. Da muss man nur ein paar Kreuze machen, niedrigschwelliger geht es nicht. Aber die Realität ist, dass wir nur bei 15 Prozent der potenziellen Spender etwas Schriftliches finden – entweder einen Organspendeausweis oder eine Patientenverfügung.

Was ist denn aus dem Organspenderegister geworden, das im März 2022 eingeführt werden sollte?

Die Idee dahinter ist, dass möglichst jeder Bundesbürger, jede Bundesbürgerin sich mit der Frage auseinandersetzt und diese Entscheidung dann in einem Online-Register dokumentiert. Aber das verzögert sich offenbar, eine zugleich sichere und bedienungsfreundliche Lösung ist bestimmt nicht unkompliziert. Am Ende hat das Register aber das gleiche Problem wie die Organspendeausweise – die Menschen müssen es auch tun.

Das Gesetz sieht auch vor, dass die Haus­ärz­t*in­nen ihre Pa­ti­en­t*in­nen an eine Entscheidung erinnern. Mich hat mein Hausarzt noch nie dazu angesprochen.

Aktuelle Zahlen Laut Deutscher Stiftung Organtransplantation haben im vergangenen Jahr 869 Menschen nach ihrem Tod ein oder mehrere Organe gespendet, 64 weniger als im Jahr zuvor. 2.695 Schwerkranke profitierten von einer Transplantation. Über 8.500 Menschen stehen auf der Warteliste für ein Spenderorgan.

Gesetzliche Lage Nach jahrelanger Debatte hatte sich der Bundestag 2020 gegen die Widerspruchslösung ausgesprochen, bei der jede*r bis zu einem Widerspruch als Spender*in gilt. Es blieb bei der Entscheidungsregelung, bei der sich Spender aktiv für eine Spende entscheiden. Gesetzliche Neuerungen zur Verbesserung der Spendenbereitschaft waren bisher erfolglos oder wurden noch nicht umgesetzt.

Da gibt es jetzt relativ neu den zusätzlichen Anreiz, dass Hausärzte diese Art von Gesprächen alle zwei Jahre abrechnen können. Bei dieser Maßnahme kann ich mir am ehesten vorstellen, dass sie etwas bringt. Erfreulich ist, dass bereits sehr viele Hausärzte Informationsmaterial von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung angefordert haben.

Ist es nicht auch so, dass in Deutschland weniger potenzielle Spender identifiziert werden als in anderen Ländern?

Das stimmt, auch da gibt es noch Verbesserungsbedarf. Die Transplantationsbeauftragten sind zwar flächendeckend eingeführt worden, aber deren Schulungen wurden in der Coronazeit eher zurückgestellt. Es ist wichtig, zu wissen, dass es keine allgemeinen Kontraindikationen für eine Organspende gibt. Auch keine Altersgrenzen. Man muss jeden einzelnen individuellen Spender sehr sorgfältig betrachten.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sagt nun angesichts Ihrer Zahlen, das Gesetz sei gescheitert und wir bräuchten erneut die Diskussion über die Widerspruchslösung, bei der jede Person grundsätzlich als Organspenderin gilt, solange sie nicht widerspricht.

Wenn Sie das Verhältnis von Patienten auf der Warteliste zu den zur Verfügung stehenden Organen sehen, dann ist das weiterhin dramatisch. Jedes Jahr versterben Menschen auf der Warteliste. Und das ist noch gar nicht alles.

Wie meinen Sie das?

Es gibt in Deutschland geschätzt mehr als 80.000 Dialysepatienten. Auf der Warteliste sind aber nur rund 6.600 Menschen, die auf eine Spenderniere warten. Das ist im internationalen Vergleich ein extrem niedriger Anteil und bedeutet, dass ein Teil der Dialysepatientinnen und -patienten gar nicht mehr auf der Warteliste landet. Vor allem ältere Menschen überleben die Wartezeiten von bis zu 10 Jahren oftmals ohnehin nicht.

Sollten wir jetzt nicht erst einmal warten, bis das Gesetz von 2020 richtig umgesetzt ist, oder sprechen Sie sich wie Lauterbach für eine erneute Debatte zur Widerspruchslösung aus?

Das ist keine Frage von „oder“. Wir brauchen so oder so ein Online-Register und wir brauchen die Unterstützung der Hausärzte. Aber nur die Widerspruchslösung bringt einen Wandel in der Kultur des Organspendens mit sich. Wenn der Bundestag die Organspende zum Normalfall erklärt, ist das ein starkes positives Zeichen.

Kri­ti­ke­r*in­nen bemängeln, dass der freie Wille damit beschnitten wird.

Es gibt bei der Widerspruchslösung überhaupt keinen Zwang zur Organspende. Jeder kann sich dagegen aussprechen, seinen Willen immer wieder ändern und auch die Angehörigen werden noch einmal gefragt. Es entsteht sicher ein gewisser Druck, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Aber das ist ja auch nötig, gerade vor dem Hintergrund, dass täglich Menschen auf der Warteliste versterben.

Die Stiftung Patientenschutz sagt, alle Argumente seien schon vor der Gesetzesänderung 2020 ausgetauscht worden, und lehnt eine neue Debatte ab.

Die Stiftung Patientenschutz sollte nicht vergessen, dass sie auch die Pa­ti­en­ten und Patientin­nen vertritt, die auf eine Organspende warten.

Vielleicht wirkt immer noch der Organspendeskandal von 2012 nach und erschüttert das Vertrauen?

Das war kein Organspende-, sondern ein Transplantationsskandal.

In einzelnen Kliniken wurden Patientendaten manipuliert, um bessere Chancen auf eine Transplantation zu haben.

Bei den Organspendern haben wir eine Transparenz, die im europäischen Vergleich beispielhaft ist. Auch bei der Erfassung der Empfänger auf den Wartelisten wurde schon vor Jahren für verbesserte Strukturen und transparente Abläufe gesorgt. Regelmäßige Kontrollen in den Transplantationszentren bestätigen das.

Apropos europäischer Vergleich: Deutschland ist Teil von Eurotransplant, einem Netzwerk mehrerer europäischer Länder zur besseren Versorgung mit Spenderorganen. Wie viele dieser Länder haben eine Widerspruchslösung?

Deutschland ist das einzige Land mit der Entscheidungsregelung. Slowenien hat so eine Art Mischlösung. Alle anderen – Österreich, Belgien, Ungarn, Kroatien – haben die Widerspruchslösung. Die Niederlande haben sie gerade neu eingeführt.

Wie viele Organspenden hat Deutschland aus den anderen Eurotransplant-Ländern bekommen und wie viele selbst abgegeben?

Wir haben bei allen Organgruppen mehr erhalten für Patienten in deutschen Kliniken, als wir an Spenderorganen abgegeben haben. Deutschland hat 2022 zum Beispiel 96 Herzen importiert und 50 Spenderherzen abgegeben. Insgesamt kommen wir auf 135 Organe, die wir in Deutschland mehr transplantiert haben, als ins Ausland gespendet wurden.

Wir profitieren also von den Ländern, bei denen die Widerspruchslösung gilt?

Ganz genau. Und in allen diesen Ländern ist die Spendebereitschaft höher als in Deutschland. Ob das allein an der Widerspruchslösung liegt oder generell an einer unterschiedlichen Kultur, kann ich nicht beantworten. Aber es zeigt sich auch in anderen Ländern, dass bei Einführung der Widerspruchslösung nach einer gewissen Zeit kontinuierlich die Organspendezahlen ansteigen.

Glauben Sie, dass Ihre Zahlen die Diskussion um eine Widerspruchslösung jetzt noch einmal in Gang bringen können?

Die Zahlen sind immer abstrakt, das weiß ich. Das ganze Thema ist abstrakt. Bis es einen betrifft. Man muss gar nicht selbst ein Spenderorgan brauchen. Wenn Sie jemanden kennen, der dreimal die Woche zur Dialyse muss oder eine so starke Herzmuskelschwäche hat, dass er keine zwei Treppenstufen mehr schafft und den ganzen Tag im Bett verbringt, dann ändert das Ihre Einstellung.

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