die dritte meinung
: Die Besetzungen in Brasília und Washington sind keine flüchtigen Phänomene, sagt Janosik Herder

Als kürzlich Tausende Anhänger des Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro die Regierungsgebäude in Brasília stürmten, kopierten sie nicht nur die Geschehnisse vom 6. Januar 2021 in Washington, D. C. Die rechten Randalierer bewiesen damit auch, dass es sich in beiden Fällen um einen neuen Typ des politischen Staatsstreichs handelt. Keinen wirklichen Staatsstreich, sondern einen, der zu unserer medial und kommunikativ gesättigten Gegenwart passt. Ein simulierter Coup.

Die Allgegenwart von digitalen Endgeräten, die allgemeine Vernetzung der Gesellschaften durch das Internet und die massive Verbreitung von sozialen Plattformen hat eine neue Form des Staatsstreichs möglich gemacht. Dabei ist der Staatsstreich keine Handlung mehr, die die Macht des Staates in Wirklichkeit ergreifen will oder ergreift, sondern eine, die die Macht des Staates auf der Ebene der Bilder und Nachrichten untergräbt. Der Coup neuen Typs hat offensichtlich nicht das Ziel, die Regierung zu ersetzen. Er produziert für den rechten Rand Selfies und für den Rest der Welt Bilder von politischem Chaos. Er zielt eher auf die kommunikative Unterhöhlung des Staates als auf den revolutionären Umsturz. Der plattformgetriebene rechte Mob ist ein mächtiges kollektives Subjekt der digitalen Gegenwart, und die Geschehnisse in Brasília sprechen gegen die Vorstellung eines flüchtigen Phänomens.

Janosik Herder forscht an der Uni Osnabrück zur Politik von Plattformen und Herrschafts­formen in der digitalen Gesellschaft. Sein Promo­tionsthema: „Kommunikation als Herrschaft. Zur Genealogie der Regierung in der digitalen Gesellschaft“.

Der Philosoph Paul Virilio bezeichnete die politische Gefahr, die die kommunikative Sättigung der modernen Gesellschaften mit sich bringt, treffend als das Heranwachsen einer Informationsbombe. Einmal gezündet, sei sie in der Lage, ganze Gesellschaften auseinanderzureißen. Der simulierte Coup in Brasília macht die Entschärfung der Informationsbombe nur umso dringlicher. Wir brauchen soziale Mechanismen und politischen Mittel, die das Auseinanderfallen ganzer Gesellschaften aufhalten. Im Moment stehen wir vielerorts mit leeren Händen da. Es wird die Aufgabe der nächsten Jahre sein, solche Werkzeuge für unsere digitale Gesellschaft zu erfinden.