Stadt-Land-Konflikt im Film „Acht Berge“: Wald, Fluss, Wiese

„Acht Berge“ begeistert mit ruhigem Tempo und monumentalen Bildern. Er erzählt von Freundschaft und lässt Stadt und Land aufeinander prallen.

Bruno (Alessandro Borghi) und Pietro (Luca Marinelli) zimmer ein Dach.

Ein Dach ist auch ein Gipfel: Bruno (Alessandro Borghi) und Pietro (Luca Marinelli) in „Acht Berge“ Foto: DCM

Naturaufnahmen in Filmen haben oft etwas Ambivalentes. Die Schönheit der Natur droht mitunter zur reinen Dekoration zu geraten, die jenseits ihres Schauwerts für die Handlung keine Rolle spielt. James-Bond-Filme sind das wohl bekannteste Beispiel für so einen cineastischen Postkartenmotivansatz.

Im Film „Acht Berge“ der Belgier Felix Van Groeningen und Charlotte Vandermeersch sieht man gleich zu Beginn Bilder von bewaldeten Berghängen und kargen Gipfeln. Die Ansichten im klassischen Fernsehformat 4:3 sind beeindruckend schön und geben sich schon bald als tragender Teil der Geschichte zu erkennen. Von romantischer Verklärung ist diese weit entfernt.

In diesen Bergen im Norden Italiens macht der junge Pietro mit seinen Eltern im Sommer Urlaub. Wobei er die meiste Zeit mit seiner Mutter (bürgerlich fürsorglich: Elena Lietti) verbringt, der Vater geht unter der Woche in Turin seiner Arbeit als Ingenieur nach und kommt bloß an den Wochenenden zu gemeinsamen Ausflügen dazu.

Der im Aostatal gelegene Ort Grana bietet neben der Natur wenig Abwechslung. Von den einst mehreren Hundert Einwohnern sind keine 20 geblieben, das einzige Kind dort heißt Bruno. Als Pietro und Bruno sich kennenlernen, freunden sich die grundverschiedenen Jungen rasch an. Bruno macht Pietro mit „seinen“ Bergen vertraut, Pietros Mutter hilft Bruno beim Lernen für die Schule. Eine Kindheitsidylle über Klassenunterschiede hinweg scheint sich anzukündigen.

„Acht Berge“. Regie: Felix Van Groeningen, Charlotte Vandermeersch. Mit Alessandro Borghi, Luca Marinelli u. a. Belgien/Frankreich/Italien 2022, 147 Min.

Mit „Acht Berge“ haben Felix Van Groeningen und Charlotte Vandermeersch den gleichnamigen Roman von Paolo Cognetti verfilmt. Für den Regisseur Van Groeningen ist es nach „Die Beschissenheit der Dinge“ von 2009 die zweite Adaption einer in Teilen autobiografischen Coming-of-Age-Geschichte. Und nach „Beautiful Boy“ (2018) mit Timothée Chalamet und Steve Carrell ist es die zweite Produktion, die er außerhalb Belgiens gedreht hat.

Zum ersten Mal führte Van Groeningen jetzt mit seiner Lebensgefährtin Vandermeersch Regie, das Drehbuch stammt gleichfalls von ihnen zusammen.

Lakonischer Tonfall

Wüsste man nicht, wer für die Regie zuständig ist, könnte man „Acht Berge“ für einen durch und durch italienischen Film halten. Fast vollständig in Italien und mit einer überwiegend italienischen Besetzung gedreht, deren Hauptdarsteller norditalienische Akzente sprechen, stellt sich nie das Gefühl ein, man habe es mit einer fördermittelbefeuerten Form von Filmemacher-„Tourismus“ zu tun.

Was auch daran liegen könnte, dass der Film einen lakonischen Tonfall wählt, der sich der Weite seiner Kulisse anpasst. Van Groe­ningen und Vandermeersch statten ihre Erzählung weniger aus, als dass sie dem Publikum Raum für eigene Fragen lassen.

Dabei gibt es zwischendurch sogar wiederkehrend einen Erzähler aus dem Off. Es ist die Stimme Luca Marinellis, der den erwachsenen Pietro spielt.

„Acht Berge“ folgt seiner Sicht, der des Jungen aus der Großstadt, der in Grana das unbeschwerte Spielen mit Bruno sichtlich genießt, für den der Aufenthalt in den Bergen aber zugleich etwas zeitlich Begrenztes ist. Nach dieser Freude kommt für ihn unerbittlich das Leid in der Stadt. Hinter der Zwangsläufigkeit dieser Dynamik sieht Pietro seinen Vater (besorgt autoritär: Filippo Timi), dessen Strenge das Leben des Jungen in Turin bestimmt. Konflikte zeichnen sich früh ab.

Der Vater als abwesende Größe

Die Väter werden denn auch für das Schicksal der Freundschaft von Pietro und Bruno maßgeblich Verantwortung tragen. Wo Brunos Vater eine abwesende Größe bleibt, der notgedrungen im Ausland auf dem Bau arbeitet, ist Pietros Vater gegenüber Bruno zugewandt, es gibt sogar Pläne, den Dorfjungen in Turin wohnen zu lassen, damit er in der Stadt zur Schule gehen kann.

Bruno ist begeistert, Pietro skeptisch, auch wegen drohender Konkurrenz. Denn Pietro erweist sich als der an Kräften Unterlegene, beim Besteigen eines Gletschers zu dritt bleibt ihm in einer besonders starken Szene buchstäblich die Luft weg, womit er seinen alpinen Vater enttäuscht, während diesen Brunos Geschicklichkeit beeindruckt.

Dann kommt alles anders und die Jungen sehen sich lange Zeit nicht mehr. Erst nach dem plötzlichen Tod von Pietros Vater finden sie Jahrzehnte später wieder zueinander. Der erwachsene Bruno, felsartig stoisch von Alessandro Borghi gegeben, ist in den Bergen geblieben, versucht mehr schlecht als recht, die Käserei seines Onkels nach traditioneller Methode am Leben zu halten. Pietro hat nach einem Streit mit seinem Vater das Studium geschmissen und den Kontakt zu den Eltern abgebrochen, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch und versucht sich als Dokumentarfilmer und Autor.

Bei allen Differenzen erweist sich die Freundschaft Brunos und Pietros als etwas stabil Selbstverständliches, das so unverrückbar währt wie die steinernen Massive um sie herum. Mit kleinen Gesten umreißen Van Groeningen und Charlotte Vandermeersch nebenbei die Gegensätze von Stadt und Land in den konträren Lebensentwürfen der Freunde. Wo Bruno, der es nicht geschafft hat, das Dorf hinter sich zu lassen, sich in die Gleichförmigkeit seines Daseins fügt, ist Pietro immer noch auf der Suche, reist in die Ferne nach Nepal, wo es ihn ebenso ins Gebirge zieht.

Brunos Beharrlichkeit

Bruno wiederum merkt bald, dass sein Vorhaben, nach altem Brauch Käse herzustellen, unter den gegenwärtigen Bedingungen kaum mehr möglich ist, will sich jedoch nicht an die Umstände anpassen. Er beharrt darauf, in genau diese Gegend zu gehören und alles so zu tun, wie es die Dinge seiner Meinung nach erfordern.

Als Pietro mit Freunden in die Berge kommt, schwärmen diese von der Landschaft und fabulieren spontan davon, ihre bisherigen Karrieren zugunsten eines Lebens in der Natur aufgeben zu wollen. Was Bruno mit dem Hinweis pariert, dass Leute wie er nicht einmal von „Natur“ sprechen. Für ihn gibt es nur konkrete Dinge wie Wald, Fluss, Wiese.

Die Nähe zwischen Bruno und Pietro ungeachtet ihrer Differenzen lässt oft an ein Paar denken, das lediglich nicht zusammenlebt und sich körperlich ebenso wenig vereint. Dass beide irgendwann Partnerinnen finden, jeder auf seine Art, stört diese auch nach langer Trennung ungebrochen enge Beziehung nicht sonderlich. In den Bergen schaffen sie schließlich einen Platz für sich, an den sie regelmäßig zurückkehren.

Als „Acht Berge“ im vergangenen Mai in Cannes lief, erhielt er den Preis der Jury, den er sich allerdings mit der Eselhommage „EO“ des polnischen Regisseurs Jerzy Skolimowski teilte. Die Goldene Palme ging hingegen an Ruben Östlunds laut-grelle Gesellschaftssatire „Triangle of Sadness“.

In Italien, wo Cognettis Roman ein preisgekrönter Bestseller ist, spricht „Acht Berge“ auch das Kinopublikum an. Man kann dem bis in die Kinderrollen hervorragend besetzten und mit dem leisen Folk-Soundtrack des schwedischen Singer-Songwriters Daniel Norgren treffsicher introspektiv unterlegten Film nur wünschen, dass er hierzulande ebenfalls auf offene Augen und Ohren stößt. Über die Befindlichkeiten zweier europäischer Männer geht sein Thema weit hinaus.

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