Fettverteilungsstörung Lipödem: Krank, nicht dick

Die chronische Krankheit Lipödem wird oft spät diagnostiziert. Einfach abnehmen hilft bei der Fettverteilungsstörung nicht.

Fettzellen unter Mikroskop

Tückische Fettzellen Foto: Benjamin Toth

„Ich konnte mir zum Schluss nicht mal mehr meine Haare föhnen, weil es zu schmerzhaft war, meine Arme hoch zu machen“, erinnert sich Danielle Dörsing. Die 25-Jährige ist an Lipödem erkrankt. Wie Dörsing geht es fast jeder zehnten Frau in Deutschland. Und dennoch wird das Lipödem von Ärz­t:in­nen häufig nicht erkannt.

Das Lipödem ist eine chronische Erkrankung, an der fast ausschließlich Frauen erkranken. Sie äußert sich durch eine krankhafte Verteilungsstörung des Unterhautfettgewebes. Allein in Deutschland sind rund 3,8 Millionen Personen betroffen – doch die Dunkelziffer wird deutlich höher eingeschätzt. Denn die Krankheit wird oft falsch oder gar nicht diagnostiziert. Und selbst wenn es zu einer Diagnose kommt, folgt nicht automatisch eine effektive Behandlung. Denn dieser stehen nicht nur fehlende Expertise, sondern häufig auch die Krankenkassen im Weg.

Die Erkrankten leiden unter stark geschwollenen Extremitäten. Besonders häufig sind etwa die Beine oder Arme betroffen. Diese sind besonders druckempfindlich und lösen dadurch starke Schmerzen aus. Auch Dörsing leidet an den kranken Fettzellen, die sich unkontrolliert vermehren.

„Ich habe mich immer gefragt, warum mein Körper und besonders meine Beine und Arme so anders aussehen als die der weiblich gelesenen Personen, die ich kenne“, erinnert sich Danielle Dörsing. Ähnliche Körper kannte sie nur von ihrer Mama und ihrer Oma. Auch sie sind an Lipödem erkrankt, haben von der Krankheit allerdings erst durch die Diagnose ihrer Tochter und Enkelin erfahren.

Das Lipödem kann familiär vererbt und weitergegeben werden, erklärt Björn Krüger, Chefarzt an einer Fachklinik für Lipödem-Chirurgie. „Man hat eine genetische Fehlfunktion der Hormonumwandlung des Progesterons gefunden. Die typischen Symptome der Erkrankung treten häufig bei hormonellen Veränderungen auf“, so Krüger. Das kann etwa während der Pubertät oder eine Schwangerschaft der Fall sein.

2019 ändert sich die Sicht der damals 22-Jährigen auf ihren Körper schlagartig. Dafür verantwortlich: ein Post auf Social Media. „Ich saß auf meinem Sofa, als ich bei Instagram eine Frau in Unterhose sah, die genau den gleichen Körperbau wie ich hatte“, erzählt sie. „Der Post war nicht sonderlich lang, aber hat die Symptomatik der Erkrankung perfekt zusammengefasst“, so Dörsing. Vor allem die Schmerzen, die blauen Flecken, aber auch die absoluten Disproportionen. All das Leid, das die Studentin täglich aushalten musste – beschrieben von einer anderen Person.

Die Symptomatik wird greifbar. Dörsing beginnt sofort, sich über die Krankheit zu informieren. Und verschafft sich Zugang zu Fachbüchern. Schnell merkt sie, wie wenig Informationen es über die Krankheit gibt. Die heute 25-Jährige gibt sich damit nicht zufrieden, will Klarheit. Sie will wissen, was mit ihr los ist. Und auch, was sie gegen ihre Krankheit unternehmen kann.

„Und dann saß ich bei meinem 65-jährigen Hausarzt und habe versucht zu erklären, dass irgendwas mit mir nicht in Ordnung ist. Doch er hat nur gesagt: ‚Dann nehmen Sie doch einfach mal ab‘“, erzählt sie. Diese Fehldiagnosen und Fehleinschätzungen sind fatal, findet Björn Krüger. „Die jungen Frauen werden dann in die ‚Adipositas-Ecke‘ gestellt. Ganz nach dem Motto: Du musst jetzt endlich mal eine Diät machen und mehr Sport treiben, dann geht das schon weg. Häufig ist dies die falsche Diagnose und die falsche Therapieempfehlung“, sagt der Experte. Hinzu komme, dass das Lipödem extrem diät- und sportresistent sei.

Wenn Dörsing an diese Zeit denkt, ist ein Gefühl besonders präsent: der ständige Druck, endlich abzunehmen. „Die Ärz­t*in­nen haben mir gespiegelt, dass ich selbst dafür verantwortlich sei, dass ich in dieser Situation bin und da auch selbst wieder rauskommen muss“, erzählt sie. Doch Dörsing kann da nicht ohne medizinische Hilfe raus.

Mit 22 Jahren durchläuft Dörsing einen Marathon an Ärzt*innenbesuchen, Wartezeiten und Fehldiagnosen. Nachdem sie ihr Hausarzt zu einem Angiologen – einem Spezialisten für Gefäße – überweist, bringt auch dieser keine Klarheit. In der Zwischenzeit nimmt Dörsing 20 Kilogramm ab. Gesundes Fett, wie sie erzählt: „Denn das vom Lipödem erkrankte Fett kann nicht abgenommen oder durch Sport und Diät reduziert werden.“ Dörsing entwickelt in dieser Zeit eine Essstörung. Durch den ständigen Druck, abnehmen zu müssen, um vermeintlich gesund zu werden.

Die Psychotherapeutin Gabriele Erbacher forscht zur psychischen Situation von Frauen mit Lipödem-Syndrom. „Die Ergebnisse unserer Studie zur Rolle der Psyche bei Lipödem und Schmerz zeigen, dass 80 Prozent der Patientinnen mit ärztlich gesicherter Diagnose Lipödem-Syndrom eine gravierende psychische Belastung aufweisen“, sagt sie. Wichtig sei, dass diese Belastung bereits vor der Entwicklung der Lipödem-Schmerzen bestehe. Besonders zentral sei die Rolle von Informationen. „Zu Beginn ist gute, wissenschaftlich fundierte ärztliche Information wesentlich, damit die betroffenen Frauen erfahren, was ein Lipödem ist – und vor allem auch, was es nicht ist“, sagt Erbacher.

Erst ein Besuch beim Phlebologen bringt für die 22-Jährige noch im selben Jahr die langersehnte Diagnose: Lipödem in Stadium 2. Er brauchte dafür nicht viel, erinnert sie sich. Hose aus, abtasten und fünf Fragen aus einem Fragenkatalog: Haben Sie schnell blaue Flecken? Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Beine abends schwerer sind als morgens? Haben Sie das Gefühl, dass Sie Wasser in Ihrem Körper eingelagert haben? Haben Sie das Gefühl, dass Sie generell schnell erschöpft sind. Haben Sie stechende Schmerzen? Fünf Fragen, die Dörsing mit einem beherzten Ja beantwortet. Mehr brauchte es nicht. Dörsing ist froh, ihre Diagnose im Verhältnis zu anderen Betroffenen noch relativ früh bekommen zu haben.

Eines der großen Probleme der Krankheit: Sie bleibt oft unentdeckt. Ärz­t*in­nen erkennen sie in vielen Fällen nicht oder diagnostizieren sie falsch. Dabei gibt es eine ICD-Nummer, in der das Lipödem in seinen drei Stadien beschrieben wird. Dennoch lautet die häufigste Fehldiagnose: Adipositas. Doch selbst mit Diagnose ist eine gute Behandlung nicht selbstverständlich.

Behandelt werden die Schmerzen meist zunächst mit Kompressionsstrümpfen. Dadurch wird die Stauung und Schwellung etwa an Beinen behandelt, das vermehrte Fettgewebe wird aber nicht gesünder. Auch Dörsing bekommt Stützstrumpfhosen verschrieben. Diese helfen ihr zwar etwas, nehmen jedoch nicht den immer stärker werdenden Schmerz. Auch Schmerzmittel helfen nicht mehr. Die Schmerzen schränken ihren gesamten Alltag ein. Das Treppensteigen fällt schwer. Sie kann nicht mehr knien, weil ihre Beine wehtun.

Schnell wird Dörsing klar: So kann es nicht weitergehen. Sie entscheidet sich für eine Operation, die sogenannte Liposuktion. Ein operatives Verfahren, bei dem die kranken Fettzellen mit Kanülen abgesaugt werden. Auslöser für die Entscheidung sind die Worte in einer Fachklinik: Wenn das so weiterwächst, dann wirst du in 15 Jahren im Rollstuhl sitzen. Dann werden die Schmerzen und Schwellungen zu stark sein, um laufen zu können, wurde ihr dort gesagt.

Dörsing bringt zwei Operationen hinter sich. Bei der ersten werden ihr zehn Liter krankes Fett entfernt, bei der zweiten noch einmal fünf. Die Kosten für die Operation muss sie selbst zahlen. Sie belaufen sich auf knapp 11.000 Euro. Auch wenn sie dadurch nicht geheilt ist, kann sie aktuell ein schmerzfreies Leben führen. Die operative Behandlung habe einen festen Stellenwert in der Lipödemtherapie, erklärt Björn Krüger. Das sei wichtig, da durch die Liposuktion das veränderte Gewebe effektiv und endgültig entfernt werde.

Dabei ist der Eingriff nicht unumstritten. Psychotherapeutin Gabriele Erbacher erwähnt hier den Nice-Report zur Liposuktion, einen Bericht des National Institute for Health and Care Excellence. In dieser Studie heiße es, die Evidenz für die Sicherheit und Wirksamkeit der Liposuktion ist unzureichend. Es sei also wichtig, die Indikation für eine Liposuktion sehr sorgsam zu stellen, sagt Erbacher.

Das Problem für Patientinnen, die sich für eine operative Therapie entscheiden, sind die hohen Kosten. Eine Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen geschieht nur unter bestimmten Bedingungen. Es muss ein Stadium 3 vorliegen und mindestens ein halbes Jahr die konservative Therapie durchgeführt worden sein. Und es braucht einen BMI unter 40. „Im Stadium 3 ist das aber fast unmöglich“, erklärt Krüger. Grund seien die vielen kranken Fettzellen. Zum einen, weil sie das Gewicht massiv beeinflussen. Zum anderen, weil die Schmerzen etwa Bewegung stark verhindern, weshalb eine durch das Lipödem verursachte Adipositas als Begleiterscheinung auftreten kann.

„Wenn man anfängt, mit Leuten darüber zu reden, sind sie immer geschockt. Dann ist man auf einmal nicht mehr die dicke Frau, die einfach faul ist“, sagt Dörsing. Sie wünscht sich ein Umdenken. „Ich denke, es ist wichtig, dass sich Frauen, die daran erkrankt sind, zusammenschließen, und dass wir alle anfangen, über diese Geschichten zu sprechen“, sagt sie.

Wie wichtig das ist, zeigt Dörsings eigene Geschichte. Denn nur weil eine Betroffene ihre Erfahrung geteilt hat, ist Dörding auf die Suche nach Antworten gegangen.

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