das lieblingsstück (V)
: Glück ist möglich

Das Beste zum Ende des Kulturjahres im Norden: Ein Nach- und Vorruf auf die Lesereihe „Zinnober“ in Hamburg-Barmbek

Du musst mal raus, sagte ich mir im vergangenen Frühjahr. Du musst wieder mehr unter Leute. Du schreibst doch über Literatur, also geh’auf Lesungen. Corona – egal. Mein Wahl fiel auf eine Reihe, die sich „Zinnober“ nannte, so wie das Mineral, das homöopathische Mittel, die Farbe. Oder die Redensart: „Mach’doch nicht so einen Zinnober“, wenn sich jemand nicht zu wichtig nehmen soll. Es war der 28. April. Sechs Abende waren angekündigt, jeweils am letzten Donnerstag des Monats, in der „Zinnschmelze“ in Barmbek – für mich am anderen Ende der Stadt. Beginn 20 Uhr, Eintritt acht Euro. Ich wusste nicht genau: Was würde mich erwarten? Danach hatte ich die Werbekarte mit den Terminen im Kalender liegen wie einen Talisman.

Was war so gut daran? Alles. Wirklich. Die Bühne, das entspannte Publikum, die vier einladenden Autoren, die an Bistrotischen lasen und mit uns sowie miteinander plauderten. Vornean Sascha Preiß, der ein sehr lesenswertes Buch über seine Zeit in Sibirien veröffentlicht hat – und der schnellste und druckvollste Vorleser der Stadt ist; ein Literatur-Bulldozer, aber auf die freundlichste Art. Dann Claudia Schumacher, die mit ihrem Roman-Debüt „Liebe ist gewaltig“ gerade so richtig durchstartet: Bei ihr konnte man Veranstaltung für Veranstaltung merken, wie Erfolg einen Menschen souverän und unbeschwert werden lassen kann.

Ganz wunderbar auch Johanna Sebauer, die es vor ein paar Jahren aus dem Burgenland nach Hamburg verschlagen hat; wenn sie ihren ersten Roman oder Erzählband vorlegt, dann wird der einen umhauen. Sie las stets auf eine exakte, gekonnt unwirsche österreichische Art, dass einem als norddeutschem Wesen das Herz aufgeht, so fremd und anheimelnd zugleich ist dieser Sound. Und dann Alexander Posch, der Alltagspoet aus Hamburg-Rahlstedt. Meistens in Trainingsjacke, wie ein Sportler, der nicht dazu kommt, Sport zu machen, weil so vieles anderes anliegt. Ich werde seinen Text nie vergessen, in dem der Weißrussische Diktator Lukaschenko stumm bei ihm zuhause am Abendbrottisch sitzt: „In der Woche davor stand Putin bei uns auf der Fußmatte. Er hatte mich überrascht, als ich den Abfall rausbringen wollte. Klein und gramvoll stand er vor mir. Von unten sah er mich mit seinen Haiaugen an.“

Gäste gab es auch, Simone Buchholz, Isabel Bogdan und Tamar Noort, alle gut und alle ansteckend gut gelaunt. Wenn ich nach Hause ging, jeweils nach etwa zwei Stunden, wohlig gestimmt und angereichert mit besten Geschichten, wusste ich: Der nächste letzte Donnerstag im Monat kommt, dann bin ich wieder hier und alles wird gut, weil es hier gut ist.

Dann der 24. November, der letzte Zinnober-Abend: Alle waren wieder da, alle freuten sich. Schließlich der letzte Text, der letzte Applaus, Abschiedsworte, Abschied. Manche Besucher gingen schnell, andere nicht, und wir standen so rum. Das kann es doch nicht gewesen sein. Das ruft doch nach einer Weiterführung, nur eben 2023, wieder jeden letzten Donnerstag im Monat, bis auf die Sommerpause, wo man denkt, alle sind weg, was nicht unbedingt stimmt; gerne auch wieder in der „Zinnschmelze“, natürlich mit den Vieren und hier und da einem Gast.

Wenn ich nach Hause ging, wusste ich: Der nächste letzte Donnerstag im Monat kommt, dann bin ich wieder hier

Ich rufe Alexander Posch an. Er hat noch eine Festnetznummer und ist entsprechend gleich am Apparat, wie man so sagt. Wir kommen ins Plaudern, galoppieren durch die Hamburger Literaturszene. Ich erfahre, dass Sascha Preiß früher auf der Bühne russische Lieder zur Gitarre gesungen hat, aber das macht er nicht mehr, natürlich nicht, wegen des Krieges. Dann stelle ich meine Frage zur Zinnober-Zukunft, und Posch sagt in sonorem Ton: „Also, ich will mal so sagen: Es wird daran gearbeitet.“ Ein paar Minuten später legen wir auf und ich weiß: Alles kann auch 2023 gut werden, für ein paar gewichtige Donnerstagabende. Das ist doch mal ein Anfang, ein hoffnungsvoller. Frank Keil