das lieblingsstück (VII)
: Ästhetischer Bruch an der richtigen Stelle

Das Beste des vergangenen Kulturjahres im Norden: In Hamburg erinnert seit Mai ein bunter Würfel an NS-Opfer im Kleinkindalter

Ein irritierender Blickfang, dieser fast mannshohe Gedenkwürfel, bestehend wiederum aus 257 bunten Glaswürfeln. Seit dem vergangenen Mai erinnert die Installation an die in der NS-Zeit zu Tode gekommenen Kinder von Zwangsarbeiterinnen, und das im „Garten der Frauen“, einem europaweit einzigartigen Areal auf dem Hamburg-Ohlsdorfer Friedhof. Auf Initiative der feministischen Sozialhistorikerin Rita Bake hatte sich 2001 ein Verein gegründet, um die Fläche zu pachten. Das Ziel war zunächst, Grabsteine bedeutender, in Ohlsdorf bestatteter Frauen, dorthin zu bringen, die nach Ablauf der Nutzungsdauer entfernt und geschreddert worden wären: Jenen der Tänzerin Lola Rogge etwa, den der jüdischen, 1940 geflohenen Malerin Gretchen Wohlwill etwa, oder den von Hamburgs erster Gerichtspräsidentin Clara Klabunde.

Aber, fragte sich Bake damals, wie steht es um ebenfalls bedeutende Frauen, die nie einen Grabstein bekommen haben? Um weniger bekannte Widerstandskämpferinnen also, als „Hexen“ verbrannte Frauen oder sogenannte Hamburger Originale“ wie die elend verstorbene „Zitronenjette“? Ihnen gewidmet ist in Ohlsdorf seither eine steinerne „Erinnerungsspirale“, für die bekannte und sozial sehr engagierte Prostituierte Domenica Niehoff wiederum, die sich keinen Stein hätte leisten können, hat der Verein das finanziert. So ist ein heimeliger, mit Brunnen, Bänken und Info-Pavillon gestalteter Gedenkgarten entstanden, in dem sich auch die Vereinsmitglieder selbst in „Bodenwellen“ bestatten lassen können. In dieser Umgebung bedeutet der geometrisch klare, an Legosteine erinnernde neue Gedenkwürfel schon rein ästhetisch einen Bruch.

Das ist angesichts des Themas vielleicht unvermeidlich und gestalterisch so gewollt. Denn es liegt nahe, in einem „Garten der Frauen“ auch an deren tote Babys zu erinnern. Die Mütter dieser Kinder waren die unter anderem aus Polen, der Ukraine, Russland, Lettland, Litauen, Belgien, den Niederlanden und Frankreich gewaltsam hergezwungenen Frauen, um kaserniert harte Arbeit zu verrichten: Diese Frauen wurden „eingesetzt“ in der deutschen Landwirtschaft, in Rüstungsindustrie und Privathaushalten; mitunter mussten sie genau die Waffen produzieren, mit deren Hilfe ihre Heimatländer erobert und unterjocht wurden.

Manche von ihnen kamen schon schwanger nach Deutschland, andere wurden es in den Lagern, wobei die Väter meist unbekannt blieben. Anfangs schickte das NS-Regime werdende Mütter noch zurück; als sich Argwohn breitmachte, dass die Schwangerschaften genau zu diesem Zweck herbeigeführt würden, mussten die Frauen bleiben – und schon eine Woche nach der Entbindung zehn- bis zwölf-Stunden-Tage absolvieren. Diese Behandlung betraf vor allem „Ostarbeiterinnen“, bei denen aus NS-Sicht „schlechtrassiger“ Nachwuchs zu erwarten war.

Also suchte das Regime andere Wege und hinderte die Frauen etwa daran, die Kinder zu stillen. Etliche von ihnen starben an Vernachlässigung oder Krankheiten, teils schon in den ersten Lebenstagen. Einzelne Babys wurden auch vom Lagerleiter persönlich ermordet, wie die Hamburger Stolperstein-Aktivistin Margot Löhr herausfand. Auf die Totenscheine schrieben die ÄrztInnen – keineR nach 1945 belangt – „schwere Ernährungsstörung“ oder „Pneumonie“. Insgesamt starben mehr als 250 Kinder – wo es sich ermitteln ließ, stehen nun Name und Alter auf den kleinen Glaswürfeln; auf anderen Steinen finden sich Zeichnungen, und ein Stein steht für all die Kinder, zu denen wenig bis nichts bekannt ist. Petra Schellen