Geschichte der Hamburger Anarcho-Szene: Postkarten für eine bessere Welt

Ein Sammelband präsentiert selbst gedruckte Postkarten der Hamburger Arbeiterbewegung und erzählt darüber ihre Geschichte zwischen 1900 und 1945.

Eine Postkarte zeigt das besetzte Gewerkschaftshaus in Hamburg 1918

Postkarten­motiv mit wehender roter Fahne: Das besetzte Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof 1918 Foto: Abb.: Anonym/VSA

Im Jahr 1911 verfügt die „Anarchistische Föderation Hamburg und Umgebung“ (AFH) endlich über eine eigene Druckmaschine. Sie kann nun nicht nur Plakate und Broschüren herstellen, sondern auch Postkarten. Die verschickt werden, die hinausgehen in die Welt, die auch gesammelt werden, als Zeichen der Verbundenheit mit der anarchistische Sache. Etwa eine Postkarte, die eine Herde Rinder zeigt, die auf eine Art Kübel zuströmen, auf dem wiederum das Wort „Wahlurne“ prangt, gedruckt im Mai 1913.

Das Motiv ist schlicht gehalten. Um künstlerische Raffinesse geht es dieser Art von Postkarten nicht. Es geht um Eindeutigkeit und um Zugehörigkeit, um plakative Botschaften. In diesem Fall um die grundsätzliche Haltung, dass der sich langsam etablierende Parlamentarismus nichts anderes sei als der Verrat an der Arbeiterklasse, die um ihre Befreiung ringe und der man so in den Rücken falle.

Folkert Mohrhof und Jonnie Schlichting haben diese Postkarte entdeckt, und sie nehmen sie zum Anlass, einmal ausführlicher über die anarchistische Szene im Deutschen Reich von 1900 bis Ende der Weimarer Jahre zu erzählen – mit Schwerpunkt auf Hamburg.

Eine wechselhafte Geschichte hat die: Kaum hatte man sich seinerzeit zu einer Organisation zusammengeschlossen, spaltete man sich bald wieder: so wie Teile der AFH zuvor als „Anarchistischer Lese- und Debattierclub Hamburg-Altona“ unterwegs waren, sich zwischendurch die „Anarchistische Föderation Deutschland“ gründete, erwächst daraus nach Ende des Ersten Weltkrieges die „Föderation kommunistischer Anarchisten Deutschlands“ in schroffer Abgrenzung zu anderen Strömungen.

Um die eigene Sicht festzuhalten, braucht die Arbeiterschaft 1926 Foto-Kurse

Enthalten ist Mohrhofs und Schlichtings Text in dem Buch „Mit revolutionären Grüßen – Postkarten der Hamburger Arbeiterbewegung 1900 – 1945“, herausgegeben von René Senenko. Es ist ein Bilderbuch, und es ist ein Lesebuch, das Beiträge von 27 Autoren und 14 Autorinnen versammelt. Viele entstammen der Community der Hamburger Geschichtswerkstätten oder sind überhaupt in der Erinnerungsarbeit unterwegs.

Zentral dabei ein Beitrag von Senenko selbst, der mit einem Abriss der Geschichte der Arbeiterfotografie Grund in die Sache bringt. Ihren entscheidenden Impuls bekommt diese, als die Arbeiter-Illustrierten-Zeitung – Auflage immerhin flotte 500.000 Exemplare – 1926 die Arbeiterschaft aufruft, selbst zur Kamera zu greifen, um die eigene Sicht auf die Welt in Bildern festzuhalten.

Damit so etwas dauerhaft gelingen kann, braucht es nicht nur Schulung in Theorie und Praxis des Klassenkampfes, sondern auch der Fotografie. Im selben Jahr noch gründet sich daher die „Vereinigung der Arbeiter-Fotografen Deutschlands“ (VdAFD). Die unterhält ein eigenes Monatsmagazin, den Arbeiter-Fotograf, zudem entstehen reichsweit Regionalgruppen, und auch ein Sujet wie das des Dunkelkammerwartes etabliert sich.

Wer damals alles aus der Hamburger VdAFD-Ortsgruppe fotografierend unterwegs war, wie aus der Schar der mit einfachen Kameras ausgerüsteten Amateure schon bald einzelne mit je ganz eigener Bildsprache hervorstachen, die zugleich mit dem Image des bürgerlichen Foto-Künstlers haderten, das ist spannend zu lesen und macht vor allem Lust auf mehr an Hintergründen und Informationen und nicht zuletzt an Bildern.

In diesem Sinne fungiert das Postkartenthema immer wieder als Katalysator, um die Geschichte der Hamburger Arbeiterbewegung in Geschichten zu erzählen, wobei die Spannbreite vom braven SPDler über den Hardcore-KPDler bis ins linksbürgerliche Lager reicht. Die Stärke des Bandes liegt in seiner thematischen Vielschichtigkeit mit Blick auf lokale Akteure.

Hier gibt es einiges zu entdecken: Denn wer weiß schon Näheres übers Naturfreundehaus Maschen, in dem nicht nur die Freiheit zum Wandern gefördert wurde, das zudem eine eigene Fotogruppe hatte – und das bis heute existiert? Wer hat schon mal vom Hoym-Verlag gehört, wiederum der später strenggläubigen Komintern verpflichtet und in dem nicht nur Postkarten-Serien und der „Arbeiter-Kalender“ erschien, sondern anfangs auch in deutscher Übersetzung Werke von Lenin und Trotzki?

Oder von dem Theologen Arnold Frank (1859-1965) – einer äußerst ambivalenten Figur: Frank, selbst vom Judentum zum Christentum konvertiert, war ein Vertreter der Judenmission. Später aber ist er einer der wenigen, der sich offensiv um die bedrängten, dann bedrohten Hamburger Juden kümmert und vielen bei ihrer Auswanderung hilft. Auf seine Spur kommt man über eine Art Werbepostkarte aus dem Jahr 1925, auf der die Segnungen der damaligen Judenmission gepriesen werden.

Lesenswert ist auch der leider etwas kurze Beitrag von Jens Ziegenbalk von der Geschichtswerkstatt Billstedt, der sich dem Industrie-Soziotop Billstedt widmet, einem Hort der Hamburger Arbeiterschaft.

Besonders, weil eigensinnig, ist zudem ein Beitrag von Andre Rebstock. Rebstock ist Mitglied der Gruppe ‚Kinder des Widerstandes‘, zu der sich vor gut fünf Jahren Kinder und Enkelkinder von WiderstandskämpferInnen der NS-Zeit zusammengeschlossen haben. Er verlässt endgültig die Ebene der politisch absichtsvollen und von heute aus allzu demonstrativen Darstellungen mit gereckter Faust und gesprengten Eisenketten.

„Mit revolutionären Grüßen“ – Postkarten der Hamburger Arbeiterbewegung, hg. von René Senenko, Hamburg, VSA 2022, 280 S., 24,80 Euro

Stattdessen stellt er eine private Postkarte in das Zentrum seiner Geschichte: eine scheinbar harmlose Kunstpostkarte, die uns auf einen beschatteten Weg in einen Wald-Hain führt. Entscheidend ist die handgeschriebene Notiz am Bildrand: „Ich bin frei!“ ist da zu lesen. Und dann ein Name: „Herta“.

Den Adressaten namens „Werner Stender“ erreichte diese Karte im Untersuchungsgefängnis Fuhlsbüttel, wo er wegen des vermeintlichen Verdachts der „Vorbereitung zum Hochverrat“ einsaß. Stender war zuvor Leiter einer kleinen, konspirativen Gruppe überwiegend kommunistisch orientierter junger Leute aus dem Wandervogelmilieu gewesen. Diese wurden nacheinander im Frühsommer 1934 von der Gestapo entdeckt und dann festgenommen. Eine von ihnen war Herta Winzer, damals 17 Jahre alt. Die schreibt ihm nun – auf Bewährung entlassen – am 25. Oktober 1934: „Du, sieh Dir die Karte nur genau an und denke daran, wie wir mit frohem Gesang durch solche schönen Gegenden gewandert sind.“

Und: „Ich habe mich über jeden grünen Zweig gefreut, den ich vom Zellenfenster aus sehen konnte.“ So wird hier aus einer vielfach reproduzierten Postkarte zum Zwecke der Erbauung ein lebensgeschichtlich wichtiges und einzigartiges Dokument über den Widerstand gegen die Nazi-Barbaren.

Was Rebstock in seinem Text nicht verrät: Herta Winzer wird später Herta Rebstock heißen. Sie war seine Mutter.

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