Psychologe über sexualisierte Gewalt: „Die Betroffenen schämen sich“

In der Ukraine wird deutlich: Auch Männer erfahren im Krieg sexualisierte Gewalt. Warum der Umgang damit so schwerfällt, erklärt Yuriy Nesterko.

Ein Bürostuhl in einem Kellergeschoss

Ein Bürostuhl steht in einem Kellergeschoss in Kherson. Hier sollen Menschen gefoltert worden sein Foto: Evgeniy Maloletka/ap

wochentaz: Herr Nesterko, sexuelle Gewalt als Kriegswaffe ist schon länger Thema. Durch Bilder von männlichen Leichen mit abgeschnittenen Genitalien werden im Ukraine­krieg nun auch Männer als Opfer sichtbar. Wieso erst jetzt?

Yuriy Nesterko: Sexualisierte Gewalt in Kriegssituationen gab es schon immer. Allerdings kommt Gewalt an Frauen um ein Vielfaches häufiger vor als Gewalt an Männern. Und diese reagieren häufig anders.

Wie?

Die Betroffenen schämen sich und haben vor allem Angst vor Stigmatisierung.

Woran liegt das?

Das hat insbesondere mit dem nach wie vor existierenden archaischen Männlichkeitsbild zu tun: Ein Mann muss stark sein, ein Mann darf keine Schwäche und sich nicht verletzlich zeigen. Er hätte sich wehren müssen und muss nun das Erlebte mit sich allein klären. Aber das Prinzip ist dasselbe: Vergewaltigungen, als eine der schlimmsten Formen sexueller Übergriffe, sind Gewaltakte mit Symbolcharakter. Sie repräsentieren Macht, eine Überlegenheit der Täter, die Betroffenen sollen unterworfen und Männer entmännlicht werden.

Das Bild des harten Mannes erfährt angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine eine Renaissance: Soldaten gelten als Helden, Waffen sind das neue Spielzeug des Mannes.

Das ist in der Tat ein Dilemma – und ein großes Missverständnis: Krieg und Wehrhaftigkeit beziehungsweise Verteidigung werden oft gleichgesetzt, sind aber nicht das Gleiche. Wehrhaftigkeit ist keine Form von Macht oder Machtdemonstration, sondern eine Haltung, mit der Gewalt entgegengetreten wird, um den Krieg zu beenden. Wohingegen Krieg und Machtdemonstration durchaus eine Einheit bilden: Wer einen Krieg beginnt, will Macht zeigen und diese mit allen Mitteln durchsetzen.

Es gibt nicht nur die grausamen Bilder aus der Ukraine, sondern auch Dokumente aus anderen Kriegen, etwa aus Ruanda, Uganda, dem Kongo, dem früheren Jugoslawien. Warum bleibt eine Debatte zu Männern als Vergewaltigungsopfer dennoch aus?

Das ist eine Frage der Diskursgeschwindigkeit sowie eine Frage sprachlicher Narrative. Uns fehlen die richtigen Worte, um zu beschreiben, was in der Ukraine im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt passiert. Deswegen dauert es länger, bis eine öffentliche Debatte dazu wirklich beginnt.

Es gibt doch Begriffe dafür, wir beide verwenden sie ja auch gerade.

Die Betroffenen selbst haben dafür keine Sprache. Sexualisierte Gewalt ist mit einem großen Tabu belegt, es gibt kaum Räume für Betroffene, um darüber zu reden und gehört zu werden.

Wir kennen die Bilder aus dem Gefängnis Abu Ghraib, in dem irakische Gefangene durch US-amerikanisches Wachpersonal misshandelt wurden. Sie gelten als Folteropfer, obwohl sie auch vergewaltigt wurden.

Viele Folterpraktiken gerade an Männern sind sexualisierte Gewalt, wie beispielsweise Stromschläge im Genitalbereich. Die Betroffenen selbst wissen das oft aber gar nicht und würden das daher nie so beschreiben. Damit sind wir wieder bei den fehlenden und den mit Tabu und Stigma belegten Worten.

Der Wissenschaftler

Der Psychologe, 38, forscht an der Universität Leipzig zu den psychischen Belastungen von Geflüchteten. Er ist in der Ukraine geboren und aufgewachsen.

Davor hat er Angst

Vor unkontrollierter Machtausübung. Und vor Grausamkeiten, zu denen der Mensch fähig ist.

Das gibt ihm Hoffnung

Die Bereitschaft von Menschen, uneigennützig Hilfe zu leisten

Ist es nicht an der Zeit, diese Taten als das zu bezeichnen, was sie sind?

Ich bin überzeugt, dass eine genauere Benennung viel dazu beitragen würde, den Diskurs zu sexualisierter Gewalt auch an Männern als Kriegsgewalt zu beschleunigen. Wir sehen das ja auch in anderen Fällen, beispielsweise beim sexuellen Missbrauch in der Kirche oder bei der ­MeToo-Debatte. Sobald ein Gewaltphänomen korrekt beschrieben ist, wird darüber in der Gesellschaft mehr diskutiert.

Früher wurden Betroffene sexualisierter Gewalt als Opfer bezeichnet. Heute ist der Begriff umstritten. Aber beschreibt er nicht genauer, was den Leidtragenden widerfahren ist?

Aus den Berichten und Gesprächen mit betroffenen Männern aus unterschiedlichen Ländern und Konflikten, darunter aus dem Krieg gegen die Ukraine, wissen wir: Manche Männer bezeichnen sich als Opfer. Sie wollen, dass die Welt erfährt, welches Unrecht ihnen widerfahren ist. Und sie wollen, dass das Umfeld, in dem sie sich bewegen, dieses Unrecht anerkennt. Sie kämpfen um ihr Recht, das erfordert Mut und trotzt der häufig abwertenden Konnotation des Wortes „Opfer“.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Und die anderen?

Diejenigen, die das Wort „Opfer“ vermeiden, wissen genau, was ihnen passiert ist. Aber sie fürchten, dass sie, sobald sie die sexualisierte Gewalt versprachlichen, aus dieser Definition nicht mehr herauskommen. Durch das Schweigen wollen sie ihre Resilienz gegen das Erlebte nicht gefährden. Das ist eine durchaus verständliche psychische Abwehr.

Sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe wird nicht nur als Machtdemonstration eingesetzt, sondern auch, um Frauen „unrein“ zu machen und aus ihren Gemeinschaften auszuschließen. Funktioniert das bei Männern genauso?

Die „Verunreinigung“ der Männer erfolgt im Zuge der Vergewaltigung durch eine vermeintliche Feminisierung oder Homosexualisierung. Oder auch dadurch, dass Männer infolge der Folter nicht mehr zeugungsfähig sind. Dadurch setzt der Aggressor ein Zeichen der Unterwerfung und „fehlender Wehrhaftigkeit“ aufseiten des Betroffenen.

„Manche Männer bezeichnen sich als Opfer. Sie wollen, dass die Welt erfährt, welches Unrecht ihnen widerfahren ist“

Um es äußerst zynisch zuzuspitzen: Ein am Leben gebliebener, vergewaltigter Soldat ist für die Gegenseite von größerem Nutzen als ein toter Soldat?

Der Betroffene lebt, wenn man so will, als Ausdruck der Übermacht, als lebendige Erinnerung einer „Superpotenz“. Das ist überaus perfide.

Löst sich bei sexualisierter Kriegsgewalt die Geschlechterdichotomie auf?

Aus Sicht der Betroffenen nicht. Frauen haben, allein weil sie durch eine Vergewaltigung schwanger werden können, noch mit ganz anderen Folgen der Gewalt zu kämpfen als Männer. Und Frauen sind nach wie vor sehr viel stärker von Vergewaltigungen betroffen als Männer.

Wo finden betroffene ukrainische Männer in Deutschland Hilfe?

Ukrainische Männer, die Erlebnisse dieser Art verarbeiten müssen und in Deutschland ankommen, können sich an psychosoziale Zentren wie das „Zentrum Überleben“ in Berlin wenden. Darüber hinaus gibt es einige wenige Spezialeinrichtungen, bei denen von Gewalt betroffene Männer, darunter auch Geflüchtete, Hilfen finden können. Insgesamt ist aber die Versorgungssituation unzureichend, und wir haben noch einen langen Weg vor uns, um sie zu verbessern.

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