Mangellage in den Kliniken: Jetzt bloß nicht krank werden

Die Lage in den Berliner Kinderkliniken bleibt angespannt. Kinderärzte sagen geplanten Streik nach „konstruktiven“ Gesprächen mit der Politik ab.

Baby mit Atemwegserkrankung im Kinderbett der Kinderintensivstation St. Joseph-Krankenhaus

Baby mit Atemwegsinfekt auf der Kinderintensiv des St. Joseph-Krankenhauses in Tempelhof Foto: Christoph Soeder/dpa

BERLIN taz | Wenige Tage vor Weihnachten ist die Lage in Berlins Krankenhäusern – vor allem in Notaufnahmen und Kinderkliniken – weiterhin angespannt. Aber anders als in vorherigen Jahren ist Corona nicht das größte Problem. Zwar sei derzeit durch den leichten Rückgang der RS-Viren eine Entlastung zu erwarten, kommentierte der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Burkhard Rodeck, gegenüber der taz. Aber auch während der Feiertage werde die Lage wohl nicht einfacher. „Die Personalsituation ist schwierig und wird schwierig bleiben.“

Die multiplen Krankheitswellen der letzten Zeit – neben Corona vor allem RS- und Grippe-Viren – sorgen nicht nur für volle Arztpraxen und Krankenhäuser. Es gibt Lieferengpässe bei wichtigen Medikamenten. Zudem melden sich immer mehr Ärz­t:in­nen und Pflegekräfte krank, sodass das System doppelt überlastet ist – immer mehr Pa­ti­en­t:in­nen treffen auf immer weniger Gesundheitspersonal. „Es ist in der Tat so, dass sich der Krankenstand gerade auch in den Kliniken extrem zuspitzt, so wie in allen Arbeits- und Lebensbereichen in unserer Stadtgesellschaft“, sagte Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne) vergangenen Donnerstag bei der Plenarsitzung im Abgeordnetenhaus.

Der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, Christian Gräff (CDU), sagte bei dieser Gelegenheit: „Wir haben eine dramatische Situation, die noch nicht mal den Höhepunkt erreicht hat.“ Auf Vorschlag der CDU soll es deshalb am Dienstag eine Sondersitzung des Gesundheitsausschusses zur Lage in Berlins Kinderkliniken geben. „Da muss es einen Notfallplan für Berlin geben und den müssen wir diskutieren“, so Gräff.

Immerhin: Das Problem ist in der Politik angekommen. Nach einem Gipfelgespräch zwischen Gote und Ver­tre­te­r:in­nen von Ärz­t:in­nen und Kliniken sollen nun Medizinstudierende in Kinderkliniken und Rettungsstellen unterstützen. Zudem sollen Krankschreibungen für Schülerinnen und Schüler ausgesetzt werden, um das Personal zu entlasten. Auch die Koordinierungsstelle für Kindermedizin an der Charité soll weiter ausgebaut werden. Um mehr Kapazitäten für Notfälle frei zu halten, hat die Charité zudem angekündigt, ab Montag keine verschiebbaren Operationen mehr durchzuführen.

„Eine Viertelstunde, bevor die Sprechstunde bei der Kinderärztin beginnt, reicht die Schlange schon am Nachbarhaus vorbei. Etwa 15 Eltern-Kind-Paare warten in der Kälte. Schniefen, Husten, blasse Gesichter. Ein Vater fängt kurz an zu zählen – und dreht gleich wieder ab. Die Sprechstundenhilfen schaffen es schließlich, möglichst viele der Wartenden in den Räumen unterzubringen, ohne noch mehr Infektionsherde zu schaffen. Der Rest muss vorerst draußen stehen. Die Ärztin rotiert und erzählt nebenbei, sie habe gerade ihre ersten Grippepatienten gehabt, sie rate unbedingt zur Impfung. Eine Mutter seufzt später, eigentlich müsste man das Kind bis zu den Weihnachtsferien aus der Kita nehmen, um zu verhindern, dass ständig ein neues Virus reinkomme, wenn gerade mal alle gesund seien. Wie passend, dass die Kita ein paar Tage später eine Mail schickt: Die Hälfte der Gruppen muss aufgrund krankheitsbedingten Personalmangels schließen, beim Rest müssen die Betreuungszeiten und -kapazitäten deutlich eingeschränkt werden.“ Eine taz-Mitarbeiterin

„Bei uns zu Hause geht es nicht um kranke Kinder und fehlende Fiebersäfte, sondern um kranke Ärzte und fehlendes Personal. Das Problem besteht auch nicht nur im Winter. In diesem Jahr wurde es fast zu einem Ritual: Arzttermin rechtzeitig vereinbart, Urlaubstage erfolgreich beantragt, passende Quartalsüberweisung mit der damit verbundenen Warteschlange beim Kinderarzt abgeholt – und dann: Absageanruf des Arzt­teams knapp 24 Stunden vor dem Arztbesuch. Das war un­ser 2022-Versuch, eine Jahresuntersuchung durchzuführen. Die letzte Absage kam vergangene Woche und der Grund war mal wieder: „Die Ärzte sind krank“ – was sich auch als Personalknappheit übersetzen lässt. Zum Glück geht es bei meinem Sohn nicht um Leben und Tod, sondern um eine Trichterbrustuntersuchung. Trotzdem bleibt die Sache für die Eltern und den fast 14-Jährigen frustrierend. Erst dieses Jahr hatte er sich für einen Eingriff entschieden, was bis jetzt nie in Frage kam. Doch nicht nur wir, sondern vor allem der Arzt sollte davon erfahren.

Im Jahr 2022 war es unmöglich. Wir müssen hoffen, dass nächstes Jahr ein umsetzbarer Jahresuntersuchungstermin möglich sein wird.“ Gemma Terés Arilla

Politik ist aufgewacht

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte am Donnerstag ebenfalls weitere schnelle Unterstützung in der Kindermedizin zugesichert. Geplant sind Regelungen, um mehr Pflegekräfte in Kliniken zu finanzieren und Mehrarbeit überlasteter Praxen besser zu honorieren. Dazu sollen Kinderarztpraxen über ihr gedeckeltes Budget hinaus alle Leistungen, die sie erbringen, auch abrechnen können. Kommen sollen auch Maßnahmen gegen Lieferengpässe bei Medikamenten.

„Endlich sind die Politiker auch mal auf uns zugekommen“, kommentierte der Sprecher des Verbandes und Berliner Arzt Jakob Maske. „Das ist ein positives Zeichen.“ Auch mit der Berliner Verwaltung habe es „sehr produktive Gespräche“ gegeben. Deshalb haben Berlins Kinderärzte ihren für diesen Montag geplanten Protest abgesagt – eigentlich hätten zum Wochenbeginn mehr als hundert Praxen in Berlin geschlossen bleiben sollen, sagte Maske. „Wir haben uns nach den konstruktiven Gesprächen und zum Wohl der Kinder und Jugendlichen entschieden, offen zu lassen.“

Wie dramatisch die Lage in den Kinderkliniken ist, schildert der Oberarzt für pädiatrische Intensivmedizin, Andreas Wroblewski vom St.-Joseph-Krankenhaus in Tempelhof im Gespräch mit der taz. Es herrsche eine „absolute Mangellage an Betten, Personal und Medikamenten“. Häufig beginne schon ab 12 Uhr die Bettensuche für neue Patient:innen, so Wroblewski. Mit Blick auf die Feiertage beschreibt Wroblewski den erwarteten Ansturm als „Hurrikan“.

Die Belegschaft an Berlins größtem katholischen Krankenhaus sei extrem frustriert über mangelnde Initiativen, während die Politik sich wegducke, so der Oberarzt. Dabei führe vor allem die fehlende Wertschätzung und das Ausbleiben einer angemessenen Vergütung zu einer immer größer werdenden Personallücke. Diese könne nur durch eine „Aufwertung“ des Pfle­ge­r:in­nenberufs geschlossen werden.

Zu wenig Personal auch in Zukunft

In naher Zukunft führe jedoch der Renteneintritt der Babyboomer-Generation zu einem „Wegbruch“ des Personals, befürchtet der Arzt. Hinzu komme die Verzögerung in der Ausbildung und die fehlenden Ausbildungszentren. Düstere Prognosen also. Die Weichen für die nächsten 10 bis 15 Jahre seien, ähnlich wie bei der Klimakrise, bereits gestellt, so Wroblewski.

Auch der Mediziner Christian Karagiannidis, der Lauterbach bei der angestrebten Reform der Krankenhausfinanzierung berät, prophezeite in der Wochentaz, dass die kommenden zehn Jahre wegen der Personalsituation noch brenzliger werden.

Laut Burkhard Rodeck kommt für die Kinderkliniken ein weiteres Problem hinzu: Kinderkliniken blieben im Sommer eher leer und seien im Winter umso voller. Die hohen Vorhaltekosten, welche für die Bereitstellung der entsprechenden Infrastruktur anfallen, blieben aber dieselben. Dies führt laut Rodeck in rund 60 Prozent der Kinderkliniken zu Finanzierungsschwierigkeiten.

Auch die Versorgung mit Medikamenten stelle stationär bereits ein Problem dar, erklärt Rodeck: „Das Problem ist auch in den Kliniken angekommen.“ Momentan sei dies zwar durch viel Kreativität auszugleichen, dennoch sei die Knappheit an Arzneimitteln spürbar. Ursache für die Schwierigkeiten bei der Versorgung seien die erhöhten Herstellungskosten von kindgerechten Arzneimitteln wie Zäpfchen oder Saft im Vergleich zu herkömmlichen Medikamenten.

Durch die wirtschaftliche Unattraktivität gäbe es nur noch wenige Firmen, die den Markt bedienen, überwiegend mit Produktionsstätten in China, Indien und den USA. Dies darf eigentlich nicht sein, findet Rodeck: „Der Staat hat eine Daseinsvorsorgepflicht.“

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