Sehnsucht nach dem pandemischen New York: Unterm Joch der Normopathen

Ein anderer Blick auf die Covid-Pandemie: Jeremiah Moss feiert in seinem Memoir Queerness, Selbstbefreiung und die anarchische Seele New Yorks.

Junge Männer auf Rädern fahren über den Times Square in New York im März 2020

„Ruinenlust“ im Lockdown – Bikes und Motorräder eroberten sich den Times Square in New York zurück Foto: Mark Peterson/Redux/laif

Es ist eines jener Bilder, die jedem im Gedächtnis haften geblieben sind, der während der Pandemie nicht aus New York geflohen ist. Gruppen von vorwiegend schwarzen jungen Männern auf Crossmotorrädern oder Mountainbikes bemächtigten sich der leeren Straßen und Boulevards, donnerten den Broadway, die Fifth Avenue oder die Stadtautobahn am Hudson hinunter, ließen die Motoren heulen und hoben ebenso martialisch wie todesmutig die Vorderräder an, bis die Gefährte senkrecht die Straße hinunterzufliegen schienen.

Jeremiah Moss ist auf den ersten Blick keiner, dem man eine Affinität zu dieser testosteron-geladenen Subkultur zutraut. Moss lebt als Schriftsteller recht isoliert in einer kleinen Wohnung im East Village – von der Bronx und Harlem, der Heimat der unter dem Hashtag #bikelife firmierenden Gangs, Dutzende Meilen und kulturelle Lichtjahre entfernt. Seinen Lebensunterhalt verdient Moss als Psychoanalytiker.

Und doch fand sich Moss an einem milden Novemberabend des Jahres 2020 mit seinem Fahrrad in einer Gruppe schwarzer Bike Life Kids aus der Bronx wieder. Wie im Rausch raste er mit ihnen die Sixth Avenue hinauf, schlängelte sich um Autos, ignorierte Ampeln und strampelte sich in eine überschäumende Euphorie. „Ich fühlte mich in diesem Schwarm lachender und grölender junger Männer wie erhoben. Mein Herz schlug bis zum Hals, ich musste nach Luft schnappen, mich packte ein Schwindelgefühl. Einer schaute zu mir und nickte, wie um zu sagen, „ich sehe dich, du bist hier“. Ich nickte zurück und dachte: „So ist es also, ein Junge unter Jungs zu sein.“

Zeit aus den Fugen

Dass Moss, der als Mädchen groß geworden ist, in diesem Moment ein wenig seine Jugend als Mann nachholte, erklärt indes nur zum Teil seine Ekstase. Der Moment war auch Ausdruck einer tiefen Befreiung, die Moss im New York der Pandemie erlebt hat.

Die Erfahrung war für Moss so profund, dass er darüber ein Buch geschrieben hat. „Feral City – On Finding Liberation in Lockdown New York“ heißt das Werk, dass derzeit in der Stadt sowie im ganzen Land für hitzige Diskussionen sorgt. Manche finden die Mischung aus Memoir und Essay pietätlos. Aus einer Katastrophe, die Millionen von Menschenleben gekostet hat, eine Story der Freude und Selbstbefreiung zu stricken, das sei obszön. Andere hingegen sind dankbar für die Aufarbeitung einer kollektiven Erfahrung, deren soziokulturelle Tragweite und Bedeutung bislang nur wenig Reflexion gewidmet wurde.

Für die meisten von uns haben die Monate seit dem Beginn des Jahres 2020 und dem schleichenden Wiedererlangen eines Status quo ante noch immer eine unwirkliche Qualität. Es lässt sich keine Kontinuität zwischen dem Erleben dieser Zeit und dem Davor und Danach herstellen. Die Erfahrung steht alleine, für sich, unerklärt und unerklärlich, eine „Zeit aus den Fugen“, wie Moss mit den Worten Derridas die Temporalität der Pandemie beschreibt.

Dieselbe Beklemmung wie zuvor

Eben darin lag für Moss jedoch die Freiheit der Pandemiemonate. Moss hat sich in der Davorzeit stets unwohl gefühlt, wie einer, der nicht an den Ort und in die Zeit gehört, in denen er lebt. Und in der Danachzeit beginnt ihn wieder dieselbe Beklemmung zu beschleichen wie im Leben davor.

„Ich hatte mich im Jahr der Pandemie wohl in meiner Haut gefühlt. Doch jetzt spüre ich, wie mich die soziale Krankheit des Kapitalismus wieder befällt und von mir Besitz ergreift und meine Gedanken wieder zum Shopping, zum Sporttreiben und zur Produktivität driften.“

Jeremiah Moss hat sich einen Namen als Blogger gemacht, der anklagend die Gentrifizierung der Stadt betrauert. Woche um Woche zog er durch sein Viertel, das einstige Boheme-Quartier East Village und dokumentierte das Verschwinden alteingesessener Etablissements: Kunstgalerien, Musikclubs, alte Familienbetriebe, Kneipen und Cafés mit Geschichte und Patina.

Die wilde, anarchisch freie Stadt

Der Hyperkapitalismus des 21. Jahrhunderts, so seine immer wieder wiederholte These, tötet die Seele New Yorks. Dabei machte er nie einen Hehl aus seiner Nostalgie nach einer Zeit, die er selbst nie erlebt hatte.

Moss zog ins East Village, weil er die Beat-Poeten der 50er Jahre verehrte, Alan Ginsburg, Jack Kerouac und Frank O’Hara, die das Viertel zu ihrem Biotop gemacht hatten. Moss stilisierte sich als ihre Statthalter in einer Umgebung, die ihm immer fremder und feindlicher wurde.

In seinem neuen Buch hat Jeremiah Moss diese Haltung verfeinert und erweitert. Er benutzt den Begriff Derridas von der Zeit, die aus den Fugen geraten ist, um seine Sehnsucht zu rechtfertigen. Wie bei Derrida der Geist des Marxismus als unerfüllte Sehnsucht eines nie erfüllten Versprechens immer wiederkehrt, kehrt für Moss während Covid die wilde, anarchisch freie Stadt wieder, die von den 50er bis in die 80er Jahre Nährboden für die vielleicht wichtigsten Kunst- und Kulturströmungen des 20. Jahrhunderts war.

Beobachtung der „Hypernormalen“

Im New York des Jahres 2020, in dem Ratten und Obdachlose sich die Straßen zurückerobern, Parks von Black-Lives-Matter-Demonstranten besetzt werden und der Times Square vom Touristenmagneten zur grotesken Freakshow mutiert, findet Moss nun endlich die Befreiung, nach der er sich schon immer gesehnt hat.

Doch Moss, ganz der brütende Analytiker, macht nicht dabei Halt, dieses Gefühl der Befreiung zu erleben und zu beschreiben. Er möchte es verstehen. Dabei gelangt er rasch bei seiner eigenen Queerness an und dem Begriff der „Ruinenlust“, den er von der englischen Schriftstellerin Rose Macauley entleiht. Es ist, wie er schreibt, die „erotische Aufladung des Sich-Auflösenden“. Für den „queeren Körper“, selbst in Aufruhr und in Auflösung, ist das Ankommen in der ruinierten Stadt ein Ankommen bei sich selbst.

So ist Moss’ Memoir von der Stadt und der Pest vor allem auch eine Kritik der normierenden Kraft des Hyperkapitalismus und seiner Unduldsamkeit gegenüber der Differenz und der Andersartigkeit. In seiner Beobachtung der „Hypernormalen“, hyperproduktiven Hyperkonsumenten, die während der Pandemie aus der Stadt verschwunden waren, zitiert Moss den Psychoanalytiker Christopher Bollas und seine Theorie der „Normopathie“.

Alles wird „instagrammabel“

Normopathie, schreibt Moss, ist der Prozess, in dem sich der hyperkapitalistische Mensch selbst in eine vermarktbare Oberfläche verwandelt. Alles wird „instagrammabel“. Subjektivität, die Wahrnehmung seiner selbst und anderer als einzigartige, komplexe Wesen, hat sich der normopathische Mensch aberzogen.

Unter dem Joch der Normopathen, die in den vergangenen 20 Jahren New York kolonialisiert haben, wird offene Queerness unmöglich. Nachdem Moss während Covid das Gefühl hatte, dass ihm und allen anderen Marginalisierten die Stadt gehört, spürt er, wie er sich seit der Rückkehr der Hypernormalen wieder in seine Rolle des grantigen, depressiven Außenseiters fügt.

Am Ende bleibt eine Diagnose, die sicher nicht nur für New York gilt. Die Pandemie war im Rückblick eine ungenutzte Chance. Es war ein Moment, in dem zu sehen und zu spüren war, dass die Dinge nicht so sein müssen, wie sie sind, dass wir ein anderes, besseres Leben führen können. Doch die Blase ist allzu schnell zerplatzt. So schnell, dass wir uns nach wenigen Monaten kaum mehr daran erinnern können.

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