SPD-Fraktionschef über Ukrainekrieg: „Wir dürfen uns nicht damit abfinden“

Diplomatie werde in Deutschland reflexhaft unter Verdacht gestellt, kritisiert Rolf Mützenich. Ein Gespräch über eigene Fehler und Hoffnung für die Ukraine

Rolf Mützenich, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion Foto: Stefanie Loos

wochentaz: Herr Mützenich, war 2022 das schlimmste Jahr, das Sie je erlebt haben?

Rolf Mützenich: Ja, der Beginn und der Verlauf des größten Landkriegs in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war für mich eine folgenschwere Ernüchterung. Ich hatte nicht vermutet, dass sich Menschen das hier noch gegenseitig antun.

Haben Sie befürchtet, dass der Krieg zu einer direkten Konfrontation zwischen Russland und der Nato eskaliert?

Das tue ich jeden Tag. Das sehe ich nicht nur im Rückblick, das fürchte ich auch für die Zukunft. Wir wissen nicht, wie Präsident Putin den Fortgang dieses Krieges plant. Die Kämpfe um das größte Atomkraftwerk der Ukraine etwa bergen enorme Eskalationsrisiken. Es gehört zur Eigendynamik von Kriegen, dass die Kontrolle über Konflikte entgleiten kann.

Die frühere CDU-Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat am 24. Februar gesagt: „Ich bin so wütend auf uns, weil wir historisch versagt haben. Wir haben nach Georgien, Krim, Donbass nichts vorbereitet, was Putin wirklich abgeschreckt hätte.“ Hat sie recht?

Nein. Es gab und gibt atomare Abschreckung. Zur Nukleardoktrin der USA gehört der Ersteinsatz von Atomwaffen. Die atomare Abschreckung, hohe Rüstungsausgaben oder die einseitige Kündigung von Verträgen der Rüstungskontrolle haben Putin nicht abgeschreckt, den Krieg zu beginnen.

Hat Deutschland nichts falsch gemacht? Die deutsche Abhängigkeit von russischem Gas ist seit der Annexion der Krim 2014 noch gestiegen.

Ich sehe im Rückblick natürlich Fehler, auch bei der Energiepolitik. Aber zu einer konstruktiven Debatte gehört mehr. Nach dem Ende des Kalten Krieges waren manche geradezu besoffen von dem vermeintlichen Sieg des Westens. Und glaubten, auf Regeln, die während des Kalten Krieges geherrscht haben, verzichten zu können.

Sie sprechen von den Kriegen in Afghanistan, Irak, Libyen?

Ja, diese Kriege – und generell gab und gibt es zu wenig Mühe auch in westlichen Staaten, die Interessen anderer Länder mit zu bedenken. Den Preis dafür zahlen wir heute. Es gibt eine Reihe von Regierungen, die sich in der UN-Generalversammlung bei der Abstimmung enthalten haben, obwohl sie den Angriffskrieg Russlands verurteilen. Deren Motive betreffen auch das Verhalten des Westens in der Vergangenheit.

Sie haben im Bundestag eine Karte in die Luft gehalten, die zeigte, dass Staaten, welche die Hälfte der Weltbevölkerung vertreten, sich in der UN-Versammlung enthalten haben. Darunter China, Indien, Pakistan, Südafrika, Senegal. Was folgt daraus?

Es wäre falsch gewesen, diese Länder für diese Enthaltung öffentlich massiv anzugreifen oder moralisch zu verurteilen. Der Bundeskanzler hat die richtige Konsequenz gezogen und einige dieser aufstrebenden Staaten zum G7-Gipfel eingeladen. Scholz hat versucht, die Perspektive dieser Länder zu verstehen und sie für eine konstruktive Haltung im Krieg gegen die Ukraine zu gewinnen. Diese Politik hat Früchte getragen. Das war beim G20-Gipfel in Indonesien und auch beim Besuch in Peking zu beobachten.

Im März zeigt Rolf Mützenich im Bundestag, welche Staaten sich im Ukraine-Konflikt nicht gegen Russland positioniert haben Foto: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

War das nur Gipfelsymbolik oder ein wirklicher Erfolg?

Man kann in der internationalen Politik nicht wie in einem Laborversuch Ergebnisse fixieren. Es geht um Prozesse. Ich finde es beachtlich, dass Bundeskanzler Scholz in Peking drei Stunden mit Präsident Xi in verschiedenen Formaten gesprochen hat und dass am Ende die Verurteilung des Einsatzes von Nuklearwaffen im Mittelpunkt der chinesischen Äußerungen standen. Das Gleiche hat sich in Indonesien beim G20-Gipfel wiederholt, der die Drohung mit Atomwaffen für unzulässig erklärt hat. Präsident Putin ist isoliert. Das ist ein ermutigendes Zeichen. Der Bundeskanzler hat diesen Kurs seit März innerhalb der Bundesregierung verfolgt. Man kann geradezu von einer Scholz-Doktrin sprechen.

63, ist seit 2019 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Von 2004 bis 2009 war Mützenich für die SPD im Bundestag abrüstungs- und nahostpolitischer Sprecher, von 2009 bis 2013 deren außenpolitischer Sprecher und danach Vizefraktionschef. Er promovierte als Politikwissenschaftler an der Uni Bremen mit einer Arbeit zum Thema „Atomwaffenfreie Zonen und internationale Politik“.

Im Januar, fünf Wochen vor dem russischen Angriff, haben Sie der taz gesagt: „Wir brauchen perspektivisch eine europäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands, auch wenn dies derzeit noch illusorisch erscheint.“ War dieser Satz ein Fehler?

Nein, aber unter den Gegebenheiten aussichtslos. Mir war damals schon klar, dass dies eine sehr langfristige Perspektive ist. Egon Bahr hat mit Blick auf die internationale Ordnung und die Landkarte festgestellt: Die USA sind für Deutschland unverzichtbar, Russland ist unverrückbar. Das ist noch immer richtig. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, für immer mit Russland im Krieg zu leben. Aber die Voraussetzung ist jetzt eine andere. In Moskau regiert weiterhin ein Kriegsverbrecher.

Muss Putin in Den Haag angeklagt werden?

Die internationale Strafgerichtsbarkeit wird gegen Präsident Putin nicht so vorgehen können, wie ich es mir wünsche. Ich kenne die Zwänge und Voraussetzungen einer solchen Strafverfolgung. Umso wichtiger ist, dass wir die Strafgerichtsbarkeit stärken und den Angriffskrieg zu einer international akzeptierten Straftat machen.

Sie haben im Mai gesagt, dass ein schneller Waffenstillstand nötig ist. Die Ukraine hat im September große Gebiete zurückerobert. War Ihre Forderung falsch?

Nein. Wer die Zivilbevölkerung schützen und die Verheerungen dieses Krieges stoppen will, muss einen Waffenstillstand für ein erstrebenswertes Ziel halten. Ich verstehe natürlich, dass die Ukraine Gebiete zurückerobern will, und ich unterstütze die Integrität der Ukraine uneingeschränkt. Dennoch müssen die Voraussetzungen für einen Waffenstillstand erarbeitet werden.

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Frank-Walter Steinmeier lehnt einen baldigen Waffenstillstand ab, weil damit „der russische Landraub abgesegnet“ würde. Das folgt der Logik: Erst wenn die Ukraine mehr Gebiete zurück erobert hat, ist ein Waffenstillstand sinnvoll.

Meine Auffassung ist: Wir werden weiterhin für die Integrität der Ukraine eintreten und dieses Ziel auch mit Waffenlieferungen zur Selbstverteidigung unterstützen. Aber ich hoffe, dass die Kriegsparteien sich gleichzeitig über Maßnahmen verständigen, um diesen Krieg weniger grausam zu machen. Ich hoffe, dass die zahllosen toten russischen Soldaten in Russland ein Umdenken auslösen. Ich wünsche mir zudem, dass in Russland die Einsicht wächst, dass dieser Krieg ein Verbrechen und ein kolossaler Fehler ist. Gut wäre es, wenn lokale Waffenruhen verabredet würden, später könnte es dann zu einem landesweiten Waffenstillstand kommen. Kriege werden selten auf dem Schlachtfeld entschieden.

Putin hat indirekt Verhandlungsbereitschaft signalisiert. Ist es sinnvoll, in Gesprächen auszuloten, ob das mehr als Propaganda ist?

Zwei Antworten. Diplomatie gilt in Deutschland derzeit als eine Art Nichtbegriff und wird reflexhaft abgelehnt. Dabei wird übersehen, dass Diplomatie nicht bedeutet, mit Putin bedingungslos oder gar über die Köpfe der Ukraine hinweg zu verhandeln. Diplomatie heißt auszuloten, ob es Möglichkeiten für Verhandlungen geben kann und die Voraussetzungen dafür zu schaffen. In den USA wird über diese Fragen selbstverständlich debattiert. Präsident Biden hält die Kontakte nach Moskau und hat nicht den Willen, sie abzubrechen. In Deutschland scheint dagegen Diplomatie unter Generalverdacht zu stehen. Zweitens: Deutschland kommt dabei derzeit keine entscheidende Rolle zu. Deswegen ist es klug, dass der Bundeskanzler auf Länder einwirkt, die stärkeren Einfluss auf Russland haben könnten.

Diplomatie bedeutet nicht, mit Putin über die Köpfe der Ukraine hinweg zu verhandeln

Agieren die USA in diesem Konflikt rational?

Wir können mehr als erleichtert sein, dass wir es mit Präsident Biden zu tun haben. Die Regierung Biden achtet darauf, nicht direkter Kriegsteilnehmer zu werden, und wägt bei Waffenlieferungen an Kiew und dem Versuch, Kontakt mit Moskau zu halten, ab. Die USA verfolgen natürlich auch nationale Interessen. Der Hauptfokus liegt dabei auf dem Wettbewerb mit China. Der Ukrainekrieg wird in Washington in diesen Rahmen eingeordnet.

Als die Rakete in Polen einschlug …

… hat sich gezeigt, wie froh wir sein können, dass Präsident Biden besonnen reagiert hat. Er hat seine Erkenntnis, dass es sich nicht um eine russische Rakete handelte, sofort mit der Öffentlichkeit geteilt. In Deutschland hingegen gab es Politiker, die vorschnell andere Schlussfolgerungen in die Öffentlichkeit posaunten …

… wie die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann.

Das war schon überraschend und unverantwortlich.

Die Ukraine hat sich militärisch effektiv verteidigt. Ist das die größte Überraschung dieses Krieges?

Mich überrascht, wie groß der Widerstandswille der gesamten Ukraine ist. Dass die Ukraine nach der Besetzung der Krim ihre Streitkräfte neu aufgestellt und ausgerüstet hat, konnte man wissen. Auch dass manche Verlautbarungen über die Stärke russischer Streitkräfte übertrieben waren.

Was hoffen Sie für 2023?

Dass dieser Krieg so schnell wie möglich endet.

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