Streiks in Großbritannien: Nichts geht mehr

Großbritannien droht erneut im Chaos zu versinken. Nicht nur wegen der massiven Streikwelle im Gesundheits- oder Postwesen.

Zwei Demonstrierende mit Plakaten bei einem Streik der Krankenschwestern

Fordern nach zehn Jahren Stagnation eine Gehaltserhöhung: streikende Krankenschwestern Foto: Alastair Grant/ap

Krankenpfleger mit Bannern vor britischen Krankenhäusern, streikender Notdienst, das britische Bahnverkehrsnetz lahmgelegt, hohe Berge von nicht abgefertigten Paketen in den Postzentralen – und demnächst wohl auch längere Schlangen bei den Grenzkontrollen, alles aufgrund von Streiks.

Das ist das neue Bild von Chaos „Made in Britain“. Und all das hat vielleicht schon Tradition. Man erinnere sich an das Chaos der Regierung aufgrund von Partygate, das Chaos in den übervollen britischen Krankenhäusern zu Beginn der Pandemie 2020, das Chaos an den Tankstellen aufgrund von überspitzt dargestellten Gerüchten über den Mangel an Fahrern, das Chaos an den Grenzübergängen kurz nach dem Brexit, die leeren Regale in den Supermärkten und nicht zuletzt das Börsenchaos nach dem „Minihaushalt“ der Regierung Truss.

Im Hintergrund von all dem stehen die gestiegenen Lebenserhaltungskosten in Kombination mit der Inflation und den gestiegenen Energiekosten. Doch der Premierminister Rishi Sunak und sein Finanzminister Jeremy Hunt glauben nach dem Absägen des Truss-Kwarteng-Duos, wieder „verantwortliche Politik“ zu betreiben, mit einer die Inflation bremsenden Wirtschaftspolitik und staatlichen Hilfen, um Energiekosten zu verringern.

Anderes kann nicht so schnell gerichtet werden, etwa der wirtschaftliche Schaden des Brexits mit 15 Prozent weniger Import und Export inklusive entsprechender Verluste. Seit 2012 sind die Torys an der Macht und wollen das Königreich aufbessern. Bis 2019 hieß das vor allem die Einführung einer Sparpolitik und das Senken der Arbeitslosenzahlen. Dann wollte Boris Johnson mit dem Brexit abgehängte Regionen im Land mit großen Beträgen wiederaufbauen.

Geld reicht nicht mehr

Doch Covid-19 und Wladimir Putin machten dem einen Strich durch die Rechnung. Mit Milliardenbeträgen wurde das Volk durch die Pandemie gefüttert. Trotzdem reicht vielen Bri­t:in­nen heute das Geld nicht mehr. Im Oktober 2021 war der Prozentsatz der britischen Bevölkerung, die Lebensmitteltafeln und ähnliche Hilfsprogramme in Anspruch nehmen mussten, auf 11 Prozent angestiegen. Andere traf dieses Jahr der gestiegene Leitzins, der die Rückzahlung von Hypotheken verteuert hat. In Großbritannien sind das viele, denn Wohlstand ist im Vereinigten Königreich auf den Besitz eines Eigenheims gebaut.

Dazu kamen die Steuererhöhungen Rishi Sunaks, sowohl als Finanzminister und heute als Premierminister gemeinsam mit dem Finanzminister Jeremy Hunt. Diese sind so hoch wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Laut dem britischen Prüfamt des Staatshaushalts (OBR) werden Bri­t:in­nen erst im Jahr 2027 durchschnittlich wieder so viel verdienen wie 2008.

Nicht nur Lohnfragen

Kein Wunder also, dass etwa Pflegepersonal angibt, es ginge ihnen beim Streiken nicht nur um die durch die Inflation (derzeit bei 10,7 Prozent) verursachten Verluste, sondern auch um nicht ausreichende Gehaltserhöhungen in den letzten zehn Jahren. Typisch britische Probleme gibt es auch in anderen Bereichen. Bahnstrecken sind in Großbritannien bis auf das Schienennetz privatisiert. Das führte zu einem Mangel an Investitionen.

Auch hier geht es den Streikenden, genauso wie bei der privatisierten Post Royal Mail, nicht nur um Lohnfragen, sondern auch um die Konsequenzen notwendiger Modernisierung, die Arbeitsplätze vernichten. Wobei der Bahngewerkschaftsführer Mick Lynch behauptet, es ginge eher um Sicherheit und Dienste, für die etwa mitfahrende Schaffner sorgen könnten. Sunak und Hunt geben sich gegenüber den Streikenden hart und kompromisslos. Aus ihrer Sicht sind die Forderungen nach höheren Löhnen eine weitere Inflationsgefahr, die sich das Land nicht leisten könne.

Streiks sollen ausgeweitet werden

Gewerkschaften wollen hingegen ihre Streiks nicht nur intensivieren, sondern auch ausweiten – es kommen immer mehr Berufssparten hinzu. Im Januar wollen Leh­re­r:in­nen zwei Tage lang die Arbeit niederlegen. Unter den Torys fordern inzwischen Abgeordnete aus 2019 von Labour eroberten Wahlkreisen zur Kompromissbereitschaft auf. Der Labourparteichef Keir Starmer behauptet andererseits, die Streiks seien nicht seine Aufgabe, und verbot seiner Fraktion, zu den Streikenden Stellung zu beziehen. Der Gründungszweck der Arbeiterpartei, Gewerkschaftsinteressen, sprich streikende Ar­bei­te­r:in­nen im Parlament zu vertreten, ist der Hoffnung auf bessere Chancen bei Wahlen geopfert worden.

Noch hält die Fraktion zusammen, doch das derzeit unterdrückte sozialistische Lager bei Labour trifft sich entsprechend offen mit Streikenden. Ex-Parteiführer Jeremy Corbyn, aus der Fraktion weiterhin ausgeschlossen, lässt sich dabei besonders gerne blicken. Da es bei Streiks in England keine minimale Dienstverpflichtung in systemrelevanten öffentlichen Diensten gibt, ist das Land schwer getroffen. Fast möchte man meinen, es gefällt britischen Menschen, sich das Leben schwerer zu machen.

Die Frage ist nur, wer ist der Hauptverantwortliche hier? Gott sei Dank gibt es für die Schuldzuweisung noch die Flüchtlinge, die den Ärmelkanal auf kleinen Booten überqueren. Auch das führte bekanntlich zu Chaos, etwa in den Aufnahmezentren. Ein Cartoon in der Times zeigte neulich die Cliffs of Dover mit den Zeilen: „Keine Züge, keine Krankenpflege, kein Notdienst … wollt ihr immer noch kommen?“

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