Prozess gegen ehemalige KZ-Sekretärin: Urteil nach 40 Verhandlungstagen

Das Verfahren gegen eine KZ-Zivilangestellte in Deutschland endet mit einem Schuldspruch: Die 97-Jährige habe Beihilfe zum Mord in über 10.000 Fällen geleistet.

eine alten Frau sitzt hinter einem Bildschirm auf der Gerichtsbank, sie trägt beige Kleidung und eine Mütze und Maske

Die Angeklagte im Gerichtssaal nach der Urteilsverkündung Foto: Christian Charisius/Pool/dpa

BERLIN taz | Die Angeklagte wollte nichts gesehen, nichts gehört und nichts gerochen haben. Das Landgericht Itzehoe glaubte der ehemaligen Stenotypistin im KZ Stutthof, Irmgard F., aber nicht. Die Jugendkammer sprach die 97-Jährige am Dienstag der Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen sowie der Beihilfe zum versuchten Mord in fünf Fällen schuldig.

Die damals 18- beziehungsweise 19-Jährige habe von Juni 1943 bis April 1945 die „organisierten Tötungsabläufe“ durch ihre Schreibtätigkeit und durch ihre Niederschrift der Kommandanturbefehle unterstützt. Auf dem Weg zur Kommandantur und durch die Fenster ihrer Dienststelle im ersten Stock könne der Angeklagten nicht verborgen geblieben sein, was im Konzentrationslager in der Nähe von Danzig – dem heutigen Gdańsk in Polen – geschah. „Der Geruch von Leichen war allgegenwärtig“, so der Vorsitzende Richter, Dominik Groß.

Mit dem Urteil endet nach 40 Verhandlungstagen das erste Verfahren gegen eine frühere KZ-Zivilangestellte in der Bundesrepublik. Am Dienstagvormittag saß F., wie so oft, mit Mütze und Jacke im Rollstuhl auf der Anklagebank im provisorischen Verhandlungssaal auf dem Gelände des China Logistic Center in Itzehoe. Sie nahm das Strafmaß – eine Jugendstrafe von zwei Jahren Haft auf Bewährung – regungslos zur Kenntnis. Mit dem Urteil folgt das Gericht der Forderung der Staatsanwaltschaft. Die Verteidigung hatte auf Freispruch plädiert.

Sie hätte jederzeit die Dienststelle verlassen können

Das Gericht rechnete F. an, sich nicht dem 15 Monate laufenden Verfahren entzogen zu haben. Dabei war der Prozess mit einem Aufreger gestartet: Am ersten Verhandlungstag floh die Angeklagte frühmorgens aus ihrem Seniorenheim in Quickborn. Die Polizei griff sie Stunden später in Hamburg auf. Das Gericht erließ einen Haftbefehl. Im Verfahren zeigte sie erst gegen Ende ein wenig Bedauern: „Es tut mir leid, was alles geschehen ist. Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen.“ Sie ließ offen, ob sie das Leid und den Tod der Inhaftierten bereut oder ihre späte Verfolgung durch die Behörden.

Irmgard F. war am Ende der NS-Zeit Zivilangestellte in der Kommandantur um den KZ-Kommandanten Paul Werner Hoppe und hatte dafür Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnet. Sie hätte aber jederzeit ohne Nachteile die Dienststelle verlassen können, betonte Richter Dominik Groß und legte nahe, dass zwischen F. und ihrem Vorgesetzten ein beruflich-loyales Vertrauensverhältnis bestanden habe. So begleitete sie ihn auch bei späteren Einsätzen. Während seiner Flucht in den Jahren 1948 und 1949 kreuzte Hoppe sogar bei F. in Schleswig auf – im Wissen, nicht verraten zu werden. Der historische Sachverständige Stefan ­Hördler hatte auf den Besuch hingewiesen.

Seit Beginn des Prozesses im September 2021 hat das Gericht 8 der zeitweise 31 Nebenkläger angehört, meist über eine Videoverbindung in die USA, nach Israel oder Polen. Sechs Ne­ben­klä­ge­r*in­nen verstarben während des Verfahrens. Josef Salomonovic konnte noch berichten. Der Überlebende war zur Verhandlung gekommen, um das Grauen zu schildern. Sein Vater Erich wurde 1944 im KZ Stutthof hingerichtet.

„Apokalypse“ nannte Richter Groß die gezielten Tötungen, die katastrophalen Lebensbedingungen und die Todesmärsche. Er könne nicht einschätzen, ob die Angeklagte dem Morden gleichgültig zusah oder es aus rassistischer Gesinnung unterstützte.

Die Nebenklage blickt mit gemischten Gefühlen auf das Urteil: Anwalt Christoph Rückel, Vertreter von sechs Überlebenden, meinte, dass die Bewährungsstrafe ein „falsches Signal“ sei. Sein Kollege Stefan Lode, der drei Nebenkläger vertrat, sagte hingegen: „Für die Überlebenden ist es ein wichtiges Signal, dass deren Leid gewürdigt wird.“ Ähnlich sieht es Nebenklage-Anwalt Hans-Jürgen Förster. Er betonte, dass der Schuldspruch entscheidend sei: „Mehr kann staatliches Strafrecht inhaltlich nicht leisten.“

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