Einstige Blütezeit: Armenisches Leben in Lwiw

Die armenische Diaspora zwischen Russland und der Ukraine. Vortrag am Leibniz-Institut in Leipzig

Armenien zählt nur rund 3 Millionen Ein­woh­ne­r:in­nen, im Ausland leben schätzungsweise über 5 Millionen Ar­me­nie­r

Von Julia Hubernagel

In Armenien sind aktuell viele in Sorge. Die Region Bergkarabach, im Nachbarland Aserbaidschan gelegen, doch mehrheitlich von Ar­me­nie­r:in­nen bewohnt, kommt seit Jahrzehnten nicht zur Ruhe. Immer wieder kommt es zu Kampfhandlungen, zuletzt eskalierte der Konflikt 2020 hin zu einem Krieg, den Aserbaidschan gewann. Ein Waffenstillstand wurde zwar vereinbart, doch griffen aserbaidschanische Truppen noch in diesem September armenische Gebiete nahe der Grenze an. Armeniens Schutzmacht Russland ist indes anderweitig beschäftigt und sandte keine Hilfe. Doch das Schicksal der einstigen So­wjet­bür­ge­r:in­nen bleibt weiterhin miteinander verknüpft. Seit Präsident Putin die Teilmobilmachung verkündete, sind russische Reservisten zu Tausenden aus dem Land geflohen; viele davon nach Armenien. Indessen beheimatet Russland mit über einer Million Menschen die größte armenische Diaspora weltweit. In der Ukraine wiederum gehört die Blütezeit armenischen Lebens der Vergangenheit an.

Über Jahrhunderte war die armenische Diaspora in der Ukraine eine der ältesten und wichtigsten im Land, sagt Iryna Haiuk, die normalerweise an der Nationalen Kunstakademie in Lwiw lehrt und aktuell mit einem Sonderstipendium für geflüchtete ukrainische Wis­sen­schaft­le­r:in­nen am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europas (GWZO) weilt, das diesen Mittwoch zu einem Vortrag (online und in Präsenz) über die armenische Diaspora in der Ukraine einlud. Erste armenische Handelsposten tauchten bereits im zehnten Jahrhundert auf der Krim auf, sagt sie. In Lwiw, das sie in ihrem Vortrag ins Zentrum stellt, konzentrierte sich die armenische Diaspora rund drei Jahrhunderte später. Zu Wohlstand seien Ar­me­nie­r:in­nen dabei vor allem durch Handel gekommen.

Belegt sei die Bedeutung der Ar­me­nie­r:in­nen bei der Etablierung der Webindustrie in der Ukraine, nahmen sie doch eine Doppelrolle ein: Sie importierten Webprodukte ins Land und ließen selbst welche produzieren, sagt Haiuk. Auch in der Schmuck- und Goldindustrie Lwiws hätten die Ar­me­nie­r:in­nen damals Einfluss ausgeübt. Heute zeugt vor allem ein Bauwerk vom armenischen Leben in der Ukraine: die armenische Kathedrale, gebaut in Lwiw im 14. Jahrhundert von polnischen Armenier:innen.

Heute, beziehungsweise vor dem Krieg, leben noch etwa 100.000 Ar­me­nie­r:in­nen in der Ukraine. Über die Jahrhunderte hätten sich die Ar­me­nie­r:in­nen assimiliert, sagt Haiuk, je nach Herrschaft „polonisiert“ oder „russifiziert“. Schuld am Rückgang trägt jedoch auch die sowjetische Politik. So wurden unter Stalin etwa während des Zweiten Weltkriegs Ar­me­nie­r:in­nen massenweise deportiert. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Zahl jedoch wieder angestiegen, Ar­beits­mi­gran­t:in­nen zog es in die Ukraine.

Armeniens Diaspora ist groß: Während Armenien nur rund 3 Millionen Ein­woh­ne­r:in­nen zählt, leben schätzungsweise über 5 Millionen Ar­me­nie­r:in­nen im Ausland. Da die Diaspora weltweit verstreut ist – große Teile wohnen etwa in den USA und Argentinien –, scheint die Anbindung an das Herkunftsland wichtig. So gibt es etwa seit 2003 das Programm „­Birthright Armenia“, das, angelehnt an „Birth­right Israel“, Jugendlichen mit armenischen Wurzeln eine Reise ins Land ermöglicht, wobei sie einen mehrwöchigen Freiwilligendienst absolvieren.

Die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der „Armenier:innen“ ist dabei doppeldeutig, werden so doch einerseits die Bewohner des gleichnamigen Landes bezeichnet, andererseits bezieht sich der Begriff auf die ethnische Gruppe, die seit schätzungsweise 3.500 Jahren auf dem Gebiet zwischen Kaukasus und der heutigen Türkei lebt.