VERSCHWUNDEN
: Die grüne Dame

Stumm und aufrecht saß sie am Tisch

Sie war mein Halt an langen Winterabenden, als der Schnee fiel. Ich stand mit dickem Bauch am Fenster und schaute ihr bei den Überstunden zu. Die grüne Dame hieß so, weil irgendwann ihr Büro limettengrün gestrichen wurde. Ernst und im Profil saß sie am Schreibtisch, in einem komplett verglasten Büro, das nachts erleuchtet wie ein Aquarium aussah. Der einzige Fisch, der noch da war: die grüne Dame. Stumm und aufrecht saß sie an ihrem Schreibtisch und schaute auf den Computer. Im Hintergrund leuchtete das Grün. Als ich mit schreiendem Baby stundenlang im Wohnzimmer auf und ab lief, saß sie wie gewohnt am Schreibtisch. Oft bis 23.00 Uhr. Hatte sie keinen Mann oder eine Frau, die auf sie wartete? Kein Bedürfnis nach einem Feierabend-Rotwein? Kinder, denen sie vorlesen oder deren Hausaufgaben sie kontrollieren konnte?

Was die grüne Dame tat, was sie arbeitete, wer sie war – ich wusste es nicht. Ich wollte auch nicht. Im Gebäude gibt es eine Plattenfirma, eine Bibliothek, viele einzelne Büros. Architektin vielleicht? Designerin? Projektmanagerin? Es war nicht wichtig. Das Bild reichte, ihr Profil im bewegungslosen Wasser des Aquariums.

Eines Abends im Frühling war sie weg. Die grüne Dame war auf einmal ein Mann, schwarz angezogen, hibbelig und mit der Aura des Rastlosen. Nun hängt ein Filmplakat neben der limettengrünen Wand. Die Musik, die oft bei geöffneten Terrassentüren aus den Büros der Musikproduktionsfirma darunter quillt, klingt lauter als früher. Die grüne Dame scheint nie da gewesen zu sein. Ich stelle mir vor, wie sie in einer frühlingsfrischen Landschaft Luft holt und spazieren geht. Läuft und läuft und läuft, anstatt an ihrem Schreibtisch zu sitzen und auf den Bildschirm zu starren.

Abends ist es nun dunkel im Aquarium. Die Fische sind längst nach Hause geschwommen.

MIRIAM JANKE