Erkältungswelle und fehlende Medikamente: Der Kapitalismus hat Fieber

Fiebermedikamente für Kinder fehlen genauso wie bezahlbare Mieten. Die viel gerühmten Märkte regeln das nicht. Die Diagnose heißt Kapitalismusversagen.

Kind bekommt Hustensaft

Wie gut, wenn man noch ein paar Medikamente auf Vorrat hat Foto: avanti/imago

Neulich nachts vor der Notfallapotheke. Draußen der Vater, der quer durch die fremde Stadt geradelt ist, weil das Kind heiß ist und vor Schmerzen wimmert. Mittelohrzündung oder so was, was die Kleinen eben haben, gerade wenn man mal auswärts übernachtet. Drinnen die Apothekerin mit sorgenvoll gefalteter Stirn. Fiebersaft?, fragt sie, als sei das der Wunsch nach einem extrem schwer zu beschaffenden Wunderelexier und nicht nach einem handelsüblichen Schmerzmittel für Kleinkinder.

Das war im Oktober. Und da gab es anders als jetzt im Dezember noch gar keine Megaerkältungswelle, die so viele Kinder trifft, dass die Kliniken kaum noch freie Betten haben und Apothekerverbände von einer noch nie dagewesenen Situation sprechen.

Das Problem wird durch die akuten Erkrankungen verschärft, bestanden hat es schon seit Monaten. Die Diagnose lautet: Das Gesundheitssystem leidet an Kapitalismus. Genauer gesagt: Auch die Medikamentenversorgung hat jetzt mit den Nebenwirkungen dieser Marktideologie zu kämpfen. So wie seit langem schon die Wohnraumversorgung in Großstädten. Oder wie seit Jahrzehnten die Umwelt. Alle leiden an akutem Kapitalismusversagen.

Der missionarische Eifer der Marktgläubigen

Das ist ein Problem. Vor allem, weil die Wirtschaftsliberalen, die in ihrer ideologischen Verblendung an die Vollkommenheit des Marktes glauben, mit missionarischem Eifer den Kapitalismus als allein selig machenden Weg zum Glück in der ganzen Welt verbreiten – Stichwort: Globalisierung. Was dann zu so seltsamen Mutationen wie der hybriden Mischung aus Traditionskommunismus und Hyperkapitalismus in China führt.

Aber auch ohne solche Pervertierungen hat der Kapitalismus Probleme genug. Dabei ist er eigentlich eine schöne Idee. Weil die Besitzenden ihr Kapital möglichst gewinnbringend einsetzen wollen und dürfen, investieren sie nur in die Produktion von Dingen, die wirklich gebraucht oder gekauft werden. Am Markt regeln dann Angebot und Nachfrage den Preis und alle sind glücklich.

Schade nur, dass die dafür vorausgesetzten vollkommenen Märkte, bei denen alle Teil­neh­me­r:in­nen stets über sämtliche Informationen verfügen und unendlich schnell reagieren können, eine schöne Theorie für Ökonomiestudierende im ersten Semester sind. Mehr aber eben auch nicht. In der Realität kommen sie genauso selten vor wie die Unfehlbarkeit des Papstes, an die die Katholiken glauben, oder die immerwährende internationale Solidarität der arbeitenden Klasse, die eine Grundvoraussetzung für einen real funktionierenden Kommunismus wäre.

Tatsächlich sind die Märkte alles andere als vollkommen. Sie sind verzerrt durch Wissensvorsprünge, durch legale wie rechtswidrige Absprachen oder durch die Marktmacht großer Player. Vor allem aber das Ausklammern aller möglichen Kostenfaktoren verzerrt die Preise – und führt damit zu falschen Ergebnissen am Markt. Das ist systembedingt. Investoren müssen so billig wie möglich produzieren. Um erfolgreich gegenüber der Konkurrenz zu bleiben, wälzen sie alle Kostenfaktoren auf andere ab.

Die Kosten aber bleiben natürlich. Auch wenn sie sich nicht so leicht in Euro und Cent bemessen lassen. Aber weil die – wie Fachleute das nennen – Internalisierung externer Kosten nicht gelingt, leidet weltweit die Umwelt unter der industriellen Produktion – und schreien nachts die Babys ohne fiebersenkende Medikamente.

Die Folgen des Preisdrucks

Denn gerade Teilmärkte – zum Beispiel der für den Fiebersaft – sind anfällig für die Bildung von Oligarchen oder gar Monopolen. Mit fatalen Folgen. Hier hat der Motor des Kapitalismus, der Preisdruck, dazu geführt, dass es seit dem Sommer nur noch einen einzigen Anbieter gibt, der in Billiglohnländern Asiens herstellen lässt. Für alle anderen war der Wettbewerb schlicht nicht mehr rentabel.

Nun sind jedoch die für einen funktionierenden globalen Handel notwendigen Lieferketten aufgrund diverser Krisen gestört. Weil sich hierzulande aber eben nicht von heute auf morgen eine konkurrenzfähige Produktion wieder hochfahren lässt, fehlt der Nachschub. Weil Ex­per­t:in­nen das seit Monaten kommen sahen, haben viele die Vorratshaltung ausgebaut, so sehr, dass viele andere nun ganz ohne dastehen. Eine Kettenreaktion wie beim Klopapier zu Beginn der Coronapandemie. Wenn wie aktuell noch eine Erkrankungswelle anläuft, kommt der Kapitalismus damit nicht mehr klar. Er hat Fieber.

Marktradikale mögen nun schreien, dass wir nicht weniger, sondern mehr Kapitalismus brauchen. Angebot und Nachfrage regeln das dann schon, bei Knappheit steigen die Preise, bis alles wieder im Gleichgewicht ist. Schon klar. Heißt dann aber mit anderen Worten auch nur: Fiebersäfte bekommen nur die, die das nötige Geld haben.

Wohin so etwas führt, zeigt ein Blick auf den Wohnungsmarkt. Auch der ist alles andere als vollkommen oder frei. Weil das Angebot so knapp ist, gibt es kaum noch Bewegung. Wer nicht muss, zieht nicht mehr um, wodurch sich die Zahl frei werdender Wohnungen weiter verknappt. Wer aber dringend eine Wohnung braucht, muss nehmen, was da ist. Die Anbieter sind temporäre Monopolisten und können die Preise diktieren. Erst diese Woche wurde gemeldet, dass die Mieten rasant steigen wie nie.

Nein, Kapitalismus ist nicht Teil der Lösung, er ist Teil des Problems. Wer anderes behauptet, hat wenig Ahnung oder lügt. Kein Kapitalismus dürfte allerdings auch keine Lösung sein. Nur ohne Strukturen, die die Interessen der Kon­su­men­t:in­nen stärken, ohne Genossenschaften von Mieter- oder Ver­brau­che­r:in­nen wird er kaum zu bändigen sein.

Die Nachtapothekerin kam übrigens nach einigen Minuten aus dem Lager zurück – mit einer Flasche Fiebersaft. Glück gehabt, weil gerade an dem Tag nach Wochen mal wieder eine Lieferung eingetroffen war. Aber Glück allein kann keine Lösung sein. Sonst müsste man allen empfehlen, Lotto zu spielen, als einzigen Weg, um mit dem Kapitalismus klarzukommen.

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Leiter des Regie-Ressorts, das die zentrale Planung der taz-Themen für Online und Print koordiniert. Seit 1995 bei der taz als Autor, CvD und ab 2005 Leiter der Berlin-Redaktion. 2012 bis 2019 Leiter der taz.eins-Redaktion, die die ersten fünf Seiten der gedruckten taz produziert. Hat in Bochum, Berlin und Barcelona Wirtschaft, Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und ein wenig Kunst studiert. Mehr unter gereonasmuth.de. Twitter: @gereonas Mastodon: @gereonas@social.anoxinon.de Foto: Anke Phoebe Peters

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