Weihnachtsmarkt im Gefängnis: Flaschenöffner in Handschellenform

Deutschlands älteste Justizvollzugsanstalt lädt zum Weihnachtsmarkt nach Celle. Gleichzeitig feiert sie 301 Jahre Seelsorge hinter Gittern.

Ein Bär hängt im Weihnachtsbaum

Weihnachtsstimmung? Geht auch hinter Gefängnismauern Foto: Radovan Stoklasa/dpa

Nein, Sträflinge stehen keine am Würstchengrill oder dem Glühwein-Ausschank. Sie verkaufen auch keine hölzernen Vogelhäuschen, Feuertonnen oder Edelstahl-Flaschenöffner in Handschellenform (4,99 Euro das Stück). Aber Menschen in Justizvollzugsdienstkleidung sind auffällig viele zugange an diesem dritten Adventswochenende.

Nach zwei coronabedingten Jahren ohne hält die Justizvollzugsanstalt im niedersächsischen Celle wieder ihren Weihnachtsmarkt ab. Und weil im Vorjahr ein ganz besonderes Jubiläum ebenfalls unter die Räder der Pandemiebekämpung gekommen war, wird es gleich mit nachgeholt.

Ein „sehr schönes Gebäude“ sei es, schreibt im Internet ein Nutzer der Reisenden-Plattform Trip­advisor, „welches von vielen Touristen beim Besuch von Celle fälschlich für das Schloss gehalten wird“. Von der richtigen Seite aus gesehen, wirkt Niedersachsens lange Zeit als sicherstes geltendes Gefängnis ein wenig wie eine Theaterkulisse, oder als hätte sich Fürst Potemkin hier verwirklicht. Die schmuck-repräsentative Architektur ließ ab 1710 der herzogliche Oberbaumeister Johann Caspar Borchmann errichten, „im französischen Schlossbaustil“, so informiert eine Plakette am historischen Torhaus.

Kirche hinter Gittern

Hinter Putz und Schnörkeln aber zeigt sich dann doch hie und da der Beton und der Stacheldraht, den man erwarten würde, wo männliche Erwachsene langjährige Freiheitsstrafen absitzen, also fünf Jahre bis lebenslang.

Schon vor Fertigstellung wurden ab 1715 Straftäter, aber auch sogenannte Irre in Celle untergebracht: Vorfahr der heutigen Justizvollzugsanstalt war ein „allgemeines Zucht- und Tollhaus“.

Überregional bekannt ist die Anstalt seit 1978: Da fingierten deutsche Sicherheitsbehörden einen Befreiungsversuch durch das RAF-Milieu, indem sie das „Celler Loch“ in die Gefängniswand sprengten.

Beinahe von Anfang an gab es in Celle eine Anstaltskirche. Im Juni 1721 wurde sie geweiht, und das hätte eigentlich im vergangenen Jahr gefeiert werden sollen: 300 Jahre Kirche hinter Gittern, das hat der amtierende Gefängnisseelsorger Jan Postel gesagt, „stehen für einen Freiheitsraum inmitten der Mauern, den Gottes Liebe und Vergebung ermöglichen“. Um einen Brückenschlag sollte es gehen zwischen denen drinnen und denen draußen – und eine Form des Feierns sollte gefunden werden, von der beide Seiten auch etwas haben sollten.

Die Anstaltsleitung und das Celler Kunstmuseum beauftragten den Berliner/Weilheimer Lichtkünstler Philipp Geist mit einer Lichtinstallation, der auch am Celler „Lichtkunstbahnhof“ beteiligt ist. Geist brachte die Idee ins Spiel, Schulkinder mitmachen zu lassen. Sechs Elft­kläss­le­r*in­nen eines Celler Gymnasiums trafen sich mit dem Künstler und dem Gefängnispastor, aber auch mehreren Gefangenen und diskutierten über ein denkbar großes Thema: Die Freiheit und deren – gefühlte – Abwesenheit waren in Zeiten der Pandemie ja außerhalb der Anstaltsmauern eine sehr aufgeladene Sache.

Mit Einbruch der Dunkelheit – dieser Tage also schon am Nachmittag – war nun zwei Mal jeweils für ein paar Stunden zu sehen und zu hören, was Geist aus dem Input der Jugendlichen und der Inhaftierten gemacht hat: Vom Torhaus aus projiziert er eine Videoinstallation auf die schlossartige Fassade des alten Anstaltsteils: Sterne und pixelige Schneeflocken, dann wieder Farbklecksartiges, das sich in Feuerwerksexplosionen verwandelt oder doch gerade umgekehrt? An Gebatiktes Erinnerndes, vergrößerte Fingerabdrücke, ein hochkant stehendes Rechteck, darin ein weißes Kreuz auf blauem Grund – ist das nicht die schottische Fahne? Immer wieder sind auch Worte zu lesen, „Grenzenlosigkeit“ könnte ein Kind geschrieben haben, „Freiheit“ sieht dagegen aus wie gedruckt.

Dissonante Tonspur

Dazu erklingt eine Tonspur: Aus flächigem, auch mal dissonantem Klang schälen sich Worte heraus, Menschen erzählen, was für sie Freiheit bedeutet: „keine Angst vor der Zukunft zu haben“, zum Beispiel; „mit meiner Familie zusammen zu sein“ – aber auch, „dass jeder Mensch an jedem Ort der Welt leben kann“. Irgendwann singt eine Mädchenstimme „Die Gedanken sind frei“, und eine andere „Über den Wolken …“.

Und nochmal später, merkwürdig dissonant, als würde sie überlagert von etwas ganz anderem, erklingt eine Coverversion von „Wind of Change“ von den Scorpions. Nach Hannover ist es ja auch gar nicht weit, von Celle aus.

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Wollte irgendwann Geisteswissenschaftler werden, ließ mich aber vom Journalismus ablenken. Volontär bei der taz hamburg, später auch mal stv. Redaktionsleiter der taz nord. Seit Anfang 2017 Redakteur gerne -- aber nicht nur -- für Kulturelles i.w.S.

Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

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