Von ganz unten

Die anarchistisch-gewaltfreie „graswurzelrevolution“ hat ihre 300. Ausgabe vorgelegt – ein Ständchen

Wäre die graswurzelrevolution (GWR) eine Zeitung wie jede andere, sähe die soeben erschienene Jubiläumsausgabe ganz anders aus. Seit eh und je wird über das Layout der „Zeitung für anarchistisch-gewaltfreie Streitkultur“ gemeckert, wird geklagt, die Lektüre der an Fotos armen Seiten schmecke zu sehr nach dem Blei ihrer langen, mit Fußnoten versehenen Texte. Zur 300. Ausgabe sollte sich das Aussehen ändern, doch im Editorial vertagt Bernd Drücke, Koordinations-Redakteur der GWR, den ersehnten Relaunch: „Unsere neuen Ideen haben wir noch nicht umgesetzt, auch weil die Layout-Diskussion im GWR-HerausgeberInnenkreis nicht beendet ist.“

In dieser eher beiläufigen Bemerkung Drückes steckt viel vom Selbstverständnis der Zeitung. Seit der Nullnummer im Jahr 1972 hält das kleine, linksalternative Blatt (Auflage bis zu 6.000 Stück) den Meinungspluralismus hoch. Jeder der über ganz Deutschland verstreuten Redakteure erhält die Texte seiner Kollegen per Mail – und ist nur eine Stimme dagegen, wird über den Abdruck diskutiert. Auch dass Drücke sich nicht Chef nennt, sondern Koordinationsredakteur steht symbolisch für die basisdemokratischen Ideale, die das Blatt seit Anbeginn vertritt.

Linke Zeitungen, die inzwischen eine Chefredaktion etabliert haben, werden von der GWR gerne belächelt. Selbst wechselt man Erscheinungsort und Koordinationsredakteur in einem Turnus von etwa fünf Jahren. Bis auf Drücke: Der promovierte Soziologe sitzt nun schon seit 1998 in seinem Münsteraner Mini-Büro, bastelt am Layout, organisiert, verfasst eigene Texte. Zur 300. Ausgabe hat Drücke in seinen Erinnerungen gewühlt und unter anderem ein „Schlüsselerlebnis“ geborgen: 1981, Drücke war „noch keine 16“ und im Geiste ganz bei Gandhi, fand er sich in einem Park wieder. Im Magen: die Faust eines „Schlägerfaschoprolls“, der ihm zuvor die Mütze geklaut hatte. Drücke wies gelassen darauf hin, dass die Mütze seiner Mutter gehöre und er sie brauche. Die Faust kehrte zurück. Noch zwei Mal. Doch Drücke sprach seinen Satz wie einen Refrain. Und bekam seine Mütze mitsamt einer Entschuldigung des Schlägers wieder.

Auch dies, wenngleich die Anekdote eines Einzelnen, steht für das, was die GWR will. Im Impressum jeder Ausgabe werden die Grundsätze des Blattes wiederholt: Die GWR ist gegen Gewalt, gegen Diskriminierung jeder Art und für eine „selbstorganisierte, sozialistische Wirtschaftsordnung“. Eine gewaltfreie, anarchistisch-politische Bewegung von unten, bei der die politische Farbe der aktuellen Regierung keine Rolle spielt. Sicherlich fällt es den GWR-Redakteuren leichter, in Opposition zu einer konservativen Staatsführung zu treten. Aber auch Schröder und Kumpanen werden nicht verschont. Ganz im Gegenteil. Und nicht von Nachteil: Denn das großenteils durch Abonnements finanzierte Blatt (2,50 Euro pro Ausgabe) liegt auch auf den Schreibtischen einiger Bundestagsabgeordneter. Und dort gewinnt es seit dem 11. September sowie in Zeiten des politischen Umbruchs weiter an Bedeutung. Ein neues Layout täte der GWR trotzdem gut. BORIS R. ROSENKRANZ