Bilanz der Boykottbewegung: Aber für welchen Fußball?

Die Proteste haben viele mobilisiert, aber von Katar und Ausbeutungssystemen verstanden sie wenig. Wie ginge Boykott besser?

Eine leere Fußballtribüne, auf den Stuhlreihen ist der Schriftzug "Boycott Qatar" zu lesen

Vor der WM war die Forderung, die Katar-WM zu boykottieren, in vielen Stadien präsent Foto: Schreyer/imago

Eine seltsame Leere herrscht derzeit in Boykott-Deutschland. Das WM-Turnier in Katar, hochgejazzt zur Schlacht um die Menschenrechte, geht erfolgreich seinen Gang. Und während in Deutschland tatsächlich sehr viel weniger Fans einschalteten, feiert der Rest der Welt Party. „All die Worte, die Empörungen, die Wut über das Turnier in Katar – das soll’s gewesen sein?“, fragte ratlos das Magazin 11Freunde. Der deutsche Zorn blieb fürs Weltpublikum nur eine Fußnote, bedeutungslos gegen Marokkos Einzug ins Viertelfinale oder die Welle des Panarabismus. Und die Abstimmung mit der Fernbedienung entpuppte sich eher als eine Suggestion von Mitbestimmungsmacht. Wer im europäischen Fußball die Zeche zahlt, bekommt konsequenterweise eine Plattform – demnächst wohl Saudi-Arabien. Was also heißt dieser Boykott für die Zukunft?

Ich habe im Rahmen von Lesungen viele Gespräche auf Boykottveranstaltungen geführt, und sie erzählen etwas über diese Zukunft. Es lohnt vielleicht, drei Wirkungsebenen zu unterscheiden: Die deutschen Fanszenen, den Staat Katar und die Fifa. Unter Fans hat dieser Boykott mehr bewirkt, als viele ihm zugestehen. Nie ist es Ak­ti­vis­t:in­nen gelungen, ein kritisches Fußballthema derart in die Gesamtgesellschaft zu tragen. Mit einem polarisierenden Aufhänger, einem zeitlich begrenzten Anlass, viel Emotion. Und wer im Fußball künftig mobilisieren möchte, hat hier bitteschön eine Anleitung – auch für gesamtgesellschaftliche Bündnisse. Erstmals überhaupt diskutierten so viele Fans, wie Fußball anders gehen kann. Viele erzählten: „Mein Bekannter X ist eigentlich nur Konsument. Jetzt hat er sich zum ersten Mal mit sowas auseinandergesetzt.“ Der Katar-Boykott war eine große Bildungskampagne.

Zugleich blieb die Ablehnung zu diffus für konstruktive Forderungen, gekränkt im eurozentrischen Fußballweltbild („Schlechte Stimmung“, „Winter-WM“, „Keine Tradition“). Es entstand eine Eigendynamik des Ekels, die irgendwann völlig das Maß verlor. Dass Ultras in Massen zum Frauenfußball oder Amateursport gingen, war empowernd, zeugt aber auch von einem unterkomplexen Verständnis: das vermeintlich Echte und Bodenständige gegen den bösen Kommerz. Es fehlt nicht nur Funktionär:innen, sondern auch vielen Or­ga­ni­sa­to­r:in­nen von Protest an kritischem Wissen. Sobald es um systemische Veränderung geht, bleibt der Fußball resistent. „In den Fanszenen hat niemand Interesse, ein anderes System umzusetzen“, sagt mir einer. Ein anderer, selbstkritisch: „Ultras werden sich immer nur über die Spitze des Eisbergs aufregen, den Willen zu mehr sehe ich überhaupt nicht.“

Keim einer Revolte? Nein, viele Medienberichte und Panels neigten dazu, zu nationalisieren. Katar als Schurkenstaat. Bezeichnend an der kenntnisarmen Katar-Debatte war auch das völlige Desinteresse, mit der katarischen Zivilgesellschaft ins Gespräch zu kommen. Letztlich galt die WM als Schlacht zwischen liberaler Demokratie und religiöser Autokratie. Vom globalen Ausbeutungssystem verstanden die Deutschen wenig. „Ich würde sofort wieder nach Katar gehen“, sagten mir fast alle Migrantinnen, die ich interviewte. Obwohl teils schlimm misshandelt, war diese WM für Zehntausende auch eine Chance, erging es ihnen besser als im Herkunftsland – oft ehemalige Kolonien, die ihre Ländereien, Arbeitskraft und Ressourcen an Europäer verscherbeln und wo fast alle Wege nach draußen geschlossen sind. Außer an den Golf. Abstrakt bemitleiden mochten die Deutschen diese Migrant:innen. Ihre eigene Schuld und die differenzierte Rolle Katars begriffen sie nie.

Dieser Boykott war also einerseits eine große Erfahrung der Selbstwirksamkeit. Oft aber ohne Bereitschaft, systemisch zu denken. Armut, Ausbeutung von Ressourcen und Biodiversität, Klimaschäden, Militäreinsätze, Hunger, giftige Müllexporte, Versklavung oder das verweigerte Recht auf Migration – all die ausgelagerten Folgen und Voraussetzungen des europäischen Wohlstands gelten uns bei Turnieren nicht als Menschenrechtsverletzung. Schuld sind die Länder, wo sie sich zutragen. Das koloniale Verständnis von Menschenrecht macht es Ausrichtern sehr leicht, auf Doppelstandards zu verweisen. Eine Deutsche, die lange in Katar arbeitete, erzählte mir, die WM-Kritik habe dort das Gegenteil bewirkt: „Viele qualifizierte Zugewanderte in Katar aus dem Globalen Süden, die vorher westlich orientiert waren, empfanden die Kritik als rassistische Kampagne und sehen den Westen jetzt sehr kritisch. Sie haben sich mit Katar solidarisiert.“ Nation Building der anderen Art. In der katarischen Gesellschaft zu überzeugen, scherte hier niemanden. Dafür hätte es Interesse an Wirkung gebraucht, weniger an Haltung. Klügere Kritik, mehr Dialog, Lernbereitschaft.

Was tun mit der WM 2026 in Nordamerika?

Und die Fifa? „Eigentlich“, sagt ein weiblicher Fan, „müssten wir ja jetzt schon das Turnier in den USA, Mexiko und Kanada in den Blick nehmen, um was zu erreichen.“ Sie hat recht: Alles, was arbeitsrechtlich in Katar durch die Boykottbewegung erreicht wurde (und es wurde tatsächlich etwas erreicht!), gelang im Vorfeld. Aber wie passt das in den hektischen Kalender des Weltfußballs, wo jährlich ein Großturnier aufwartet? Und worum soll es gehen? „Das Recht auf Abtreibung“, schlägt die junge Frau für die US-WM vor. Aber ist es wirklich vorstellbar, dass der DFB in vier Jahren mit einer Pro-Choice-Kampagne aufläuft? Das Nationalteam als Debattierclub? Eine Druckwelle wie aktuell ist nur möglich bei einem Ausrichter, auf den sich alles projizieren lässt, mit allen Untiefen. Das heißt für Veränderung: Weniger Fokus auf einzelne Ausrichter. Mehr Fokus aufs System.

Kein Staat wird sich durch Fußball im Grundsatz verändern. Und übrigens, wie der Ausschluss Russlands zeigt, auch nicht durch einen Boykott. Wer nicht mehr redet, verliert jeden Zugriff und die Möglichkeit, zu lernen. Effektiver ist, den Fußball selbst zu verändern. Um Verbündete zu finden, müssen wir Probleme systemisch statt national ansprechen, langfristig und selbstkritisch. Im Rahmen dieser WM haben viele Fans zum ersten Mal mit Ar­beits­mi­gran­t:in­nen etwa aus Nepal diskutiert. Das ist eine große Errungenschaft. Ein Fanprojekt überlegt, sie kommendes Jahr wieder einzuladen. Das ist der Weg. Wer Veränderung will, muss aber für einen grundlegend anderen Fußball bereit sein. Dass es während der Katar-WM um mehr ging als oberflächliche Empörung, dieser Beleg steht noch aus. Damit das System besser wird, muss der Protest besser werden.

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