Ukraine gedenkt der Vernichtung durch Hunger

Vor 90 Jahren begann der „Holo­domor“ – viele Staaten erkennen ihn erst jetzt als Völkermord an

Inmitten des russischen Angriffskriegs hat die Ukraine am Samstagabend der von der Sowjetführung vor 90 Jahren verursachten Hungersnot Holodomor gedacht. Auch die Regierungschefs von Belgien und Polen, Alexander De Croo und Mateusz Morawiecki, sowie Litauens Ministerpräsidentin Ingrida Simonyte reisten nach Kyjiw.

Präsident Wolodimir Selenski betonte, sein Land lasse sich nicht „brechen“. Die Ukrainer hätten „Schreckliches durchgemacht“, sagte Selenski in einem Video: „Einst wollten sie uns durch Hunger zerstören, nun durch Dunkelheit und Kälte.“

Der Begriff Holodomor (Tötung durch Hunger) erinnert an die Jahre 1932 und 1933, als der sowjetische Diktator Josef Stalin durch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft eine große Hungersnot ausgelöst hatte, da alle Ernten nun ausschließlich als Staatseigentum galten. Allein in der Ukraine starben nach Schätzungen von Historikern bis zu zehn Millionen Menschen.

An der Holodomor-Gedenkstätte im Zentrum Kyjiws versammelten sich orthodoxe Priester zu einer stillen Zeremonie. Die Hungersnot sei künstlich herbeigeführt worden, sie sei ein Völkermord an den Ukrainern gewesen, sagte der Priester Oleksandr Schmurygin. Und nun „wiederholt sich die Geschichte durch den massiven und grundlosen Krieg Russlands“.

Zahlreiche Staaten vor allem in Osteuropa erkennen den Holodomor inzwischen als Völkermord an, wie die Ukraine selbst auch. Zuletzt erkannte das Oberhaus der Republik Irland am Donnerstag die große Hungersnot als „Völkermord an den Ukrainern“ an. Der Deutsche Bundestag könnte am kommenden Mittwoch eine entsprechende Resolution verabschieden. Der ukrainische Botschafter in Berlin, Oleksii Ma­keiev, begrüßte den entsprechenden gemeinsamen Antrag der Koalitionsfraktionen und der Unionsfraktion. Es gehe um die Anerkennung der Wahrheit, „die man jahrzehntelang zu vertuschen versuchte“, sagte Makeiev.

Russland weist den Vorwurf des Genozids am ukrainischen Volk zurück, da die von Stalin provozierte Hungersnot auch für Millionen von Opfern unter Russen, Kasachen und anderen Völkern der einstigen Sowjetunion verantwortlich war. Unter anderem deswegen ist auch unter Wissenschaftlern die Einstufung als Völkermord umstritten, wobei neuere Forschungen belegen, dass es Sondermaßnahmen in der Sowjetrepublik Ukraine gab. (afp, taz)

Raketenangriffe und Kämpfe

Die russischen Raketenangriffe auf zivile Ziele in der Ukraine gingen am Wochenende weiter. In mehreren Gebieten im Osten und Süden der Ukraine wurde Luftalarm ausgelöst. Binnen 24 Stunden seien sieben Zivilisten getötet und weitere 19 verletzt worden, teilte der Vizechef des Präsidialamtes, Kyrylo Tymoschenko, am Sonntag mit. Besonders massiv wurde die kürzlich zurückeroberte Stadt Cherson und deren Umgebung beschossen. Bei mehr als 50 Angriffen seien auch Wohnhäuser getroffen worden, berichtete Militärgouverneur Jaroslaw Januschewitsch am Sonntag. Am Samstag waren bei Raketenangriffen auf die Industriestadt Dnipro mindestens 13 Menschen verletzt worden.

Experten erwarten derweil eine Intensivierung des Kampfgeschehens am Boden. Nach verbreiteten Regenfällen, die auf manchen Schlachtfeldern für schlammiges Terrain sorgten, schneite es am Sonntag in Kyjiw. Winterwetter und zu erwartende gefrorene Böden könnten das Kampfgeschehen beeinflussen, erklärte das Institute for the Study of War in Washington. Die meteorologischen Faktoren, die neue Offensiven aktuell behindern, stünden vor der Auflösung. Zuletzt tobten besonders schwere Kämpfe am Rand der ukrainischen Frontstadt Bachmut westlich von Donezk im Osten des Landes. (dpa, taz)