Jean-Philipp Baeck
Warum
: Mein frommer Wunsch nach Kundenbindung

Foto: S Steinkopf/Ostkreuz

Ich habe nicht oft das Verlangen, in die Kirche zu gehen. Als linker und kritisch denkender Mensch ist das Verhältnis zur Religion – sagen wir: unentspannt. Neben meiner politischen Überzeugung, dass Staat und Kirche strikt getrennt gehören und Aufklärung und Vernunft eine Gesellschaftsveränderung leiten sollten, schlummert da jedoch dieser Rest an Unvernunft, mit dem ich zu leben gelernt habe. Eine persönlich-kulturelle Gefangenschaft im Katholizismus. Mit dem Verweis auf Befreiungstheologen, die für den Sozialismus zur Waffen griffen, rede ich es mir schön.

Jedenfalls kommt manchmal Neugier auf, vielleicht sogar ein tieferes Bedürfnis, wer weiß, zumal in Zeiten der Pandemie. Die ist zwar nun angeblich vorbei, doch wir erinnern uns an geschlossene Geschäfte, leere Straßen und den gesellschaftlichen Backlash zur Kleinfamilie als erzwungenem Restsozialzusammenhang. In der Zeit zog ich nach Berlin. Keine Kneipen auf, keine Clubs, keine sex- und drogenpositiven Sündenpfuhle.

Es hätte der Moment sein müssen für die Kirche, mir die Hand zu reichen, mich als Schäflein einzusammeln. Stattdessen: nichts. Kein Anruf vom Pfarrer, kein Begrüßungsweihrauch. Was war nach dem Umzug überhaupt meine Gemeinde? Ich wusste es nicht. Womöglich lag da irgendwann ein unpersönliches Faltblatt im Briefkasten, mehr nicht.

Dass es Leute mit dringendem Erbauungsbedürfnis gibt, zeigt eine Suche bei Google Maps: „Wann ist morgen die Kirche offen ich muss das schnellstens erfahren“, lautet die erste Frage beim Karteneintrag zur St.-Mauritius-Gemeinde in Lichtenberg-Friedrichshain.

Die neugotische St.-Mauritius-Kirche ragt inmitten massiver Großwohnblöcke wie eine Backsteinbastion gegen den realexistierenden Sozialismus heraus, was in Ostberlin ja durchaus lange das Verhältnis von Kirche und Staat beschrieb, und wohl auch heute ideologisch noch gilt – Befreiungstheologie hin oder her.

Ich war an einem Sonntag da, beim Erntedankgottesdienst. Vor dem Altar hatten die Gläubigen Lebensmittel drapiert, die gesegnet wurden: Dosensuppen und Orangensaft der Marke Solevita von Lidl. Ich fand das rührend.

Nach der Messe bot eine Frau draußen selbst gemachte Marmelade an, wobei die Einnahmen wohltätigen Zwecken gespendet werden sollten und die mit Birnen köstlich schmeckte. Das war alles herzerwärmend, aber konnte ich nicht mehr verlangen?

Immerhin zahle ich regelmäßig. Weil ich mich nicht gekümmert habe, hat das Finanzamt meine Einkommensteuer für das Jahr 2020 geschätzt und damit auch die Kirchensteuer berechnet. Die beträgt in Berlin 9 Prozent der Einkommensteuer, bei mir wären das zu hoch geschätzte 486,81 Euro. O2 bietet mir für den Preis ein neues iPhone und 40 GB monatliches Datenvolumen.

Kein Anruf vom Pfarrer, kein Begrüßungsweihrauch. Meine Gemeinde nach dem Umzug? Ich wusste es nicht

Warum schafft es die Kirche für das Geld nicht, mich wirklich willkommen zu heißen?

Anruf beim Erzbistum Berlin. Pressesprecher Stefan Förner erklärt: Die Gemeinden sind einzeln zuständig und es gelingt ihnen unterschiedlich gut. Das Bistum will aber dringend nachhelfen, denn es gibt Herausforderungen: Meldeämter übersenden Neuzugänge stark verzögert – und ausschließlich Adressen. Manche Pfarreien halten Postsendungen für zu teuer, auch weil in Berlin neue Gemeindemitglieder schnell wieder umgezogen sind. (Keine Wohnung gefunden und erst mal nach Mahrzahn, dann doch noch WG-Zimmer in Neukölln). Längst nicht alle sind glücklich über einen Brief und manche beschweren sich, woher die Daten stammen. Ohnehin heißt der Umzug nach Berlin für viele, sich neu zu sortieren, und das stößt den Austritt an.

Das immerhin ist dann sicher: Beim Kirchenaustritt gibt es definitiv einen Brief.