Neue Protestbewegung in China: Leere weiße Blätter

Tausende protestieren auf Chinas Straßen gegen die Coronamaßnahmen, doch es geht längst um mehr. Ihr Frust wird so schnell nicht abebben.

Menschen mit weißen Papierblättern protestieren

„Wir wollen Freiheit, wir wollen Menschenrechte!“ – Proteste am 27. November in Peking Foto: Ng Han Guan/ap

PEKING taz | Die weißen, unbeschriebenen DIN-­A4-Blätter provozierten die chinesische Regierung wie seit Jahrzehnten nichts mehr. Dabei hielten die jungen Pekinger sie am Abend des ersten Adventssonntags nur vor die Brust. Doch das leere Papier reicht als Symbol des Widerstands: Angesichts der repressiven Zensur müssen subversive Botschaften ungeschrieben bleiben – und trotzdem versteht sie jeder.

Verbal ließen die Menschen, von denen sich geschätzt Tausende am Liangma-Fluss in Peking versammelten, keinen Zweifel an ihren Forderungen: „Wir wollen Freiheit, wir wollen Menschenrechte!“, brüllte die Menge immer wieder. Viele der Demonstranten nahmen nach Mitternacht ihre Maske ab – und zeigten sich damit furchtlos gegenüber den Überwachungs­kameras und anwesenden Zivilpolizisten. An diesem Abend blieben die Sicherheitskräfte auf Distanz, schritten nicht ein. Noch nicht.

Erst am nächsten Tag schlug die staatliche Gewalt mit voller Wucht zurück. Am Ort des Geschehens patrouillierten Polizisten in Mannschaftsstärke, und in mehreren Kilometern Umkreis wachten an Straßenkreuzungen Beamte in Zivil. Aber selbst aus der Ferne waren sie leicht zu erkennen, dank ihrer schneeweißen N95-Coronamasken, die die Regierung an ihre Bediensteten ausgegeben hat.

So flackerten die ersten politischen Proteste in Chinas Hauptstadt seit den 1990er Jahren notgedrungen nur kurz auf. Aber sie machten kritische Stimmen sichtbar, die bisher unter Staatspräsident Xi Jinpings Regime verborgen blieben.

Ausforschen, Überwachung, Abriegeln

Viele wird ihr Mut einen hohen Preis kosten. Noch eine Woche später hält die perfide Einschüchterungskampagne des chinesischen Sicherheitsapparats an. Der Staat nutzt dabei ausgerechnet die digitalen Überwachungsmethoden, die er während der Pandemie implementiert hat – vorgeblich, um die Menschen zu schützen. Aber er forscht keine Infizierten aus, sondern unliebsame Kritiker.

Ausgelöst hatte die Proteste ein Wohnungsbrand im nordwestchinesischen Ürümqi, einer Stadt mit etwa 4 Millionen Einwohnern. Beim Brand kamen mindestens zehn Menschen ums Leben. Vieles deutet darauf hin, dass sie zum Opfer der Lockdownmaßnahmen wurden: In sozialen Medien berichten Anwohner, dass ihre Notausgänge verriegelt waren und sich die Rettungskräfte quälend lange durch Metallzäune und Straßensperren kämpfen mussten. Über 100 Tage befand sich die Stadt bereits im Coronalockdown. Dem darauffolgenden Protest schlossen sich Menschen in Dutzenden Städten des ganzen Landes an.

Für Außenstehende ist schwer vorstellbar, was die alltäglichen Coronamaßnahmen – nicht der Lockdown – in China bedeuten: In sämtlichen Städten müssen die Bewohner alle 72 Stunden zum PCR-Test anstehen, um überhaupt in Supermärkten einkaufen zu können. Auch den Gang ins Büro registrieren Behörden per digitalem „Gesundheitscode“ am Smartphone.

Selbst die eigenen vier Wände prägt eine tiefe Ungewissheit. An jedem Morgen können Seuchenschutzmitarbeiter in Ganzkörperanzügen vor der Wohnungsanlage stehen und die Türen verriegeln. Für einen tatsächlichen Lockdown reicht ein einzelner Coronafall in der gesamten Nachbarschaft.

Einige Städte lockern die Politik, aber die Wut bleibt

Bei den Protesten ging es den jungen Chinesen aber stets um mehr als eine offenere Pandemiepolitik. Sie forderten eine Öffnung der Gesellschaft: mehr Meinungsfreiheit, weniger Beschränkungen durch die Partei. Bei den Protesten in Shanghai schrie die Menge sogar: „Nieder mit der Partei, nieder mit Xi Jinping!“ Das ist in einem Land, in dem die Bewohner den Namen ihres Staatschefs meist nur im Flüsterton auszusprechen wagen, geradezu unfassbar.

Die Staatsführung antwortete auf diese erste Herausforderung seit Jahren wenig überraschend mit Einschüchterung und Verhaftungen. „Wir müssen hart gegen Infiltration und Sabotage feindlicher Kräfte durchgreifen“, hieß es in einer ersten Stellungnahme der Partei. Eine Warnung, die für viele zur traurigen Wirklichkeit wurde. ­Polizisten hielten in Shanghais U-Bahnen und Straßenzügen gezielt nach jungen Menschen Ausschau, filzten ihre Smartphones, löschten kritische Aufnahmen und ausländische Apps.

Aber das war nur die eine Seite der Medaille. Nach den Protesten lockerte die Regierung tatsächlich ihre „Null Covid“-Politik. Am Mittwoch sprach Chinas Vizepremierministerin Sun Chunlan, von vielen als „Lockdown-Lady“ verschrien, plötzlich von einer „neuen Phase“ der Pandemie: „Da die Omikronvariante weniger pathogen geworden ist, mehr Menschen geimpft werden und wir mehr Erfahrungen in der Covidprävention gesammelt haben, befindet sich unser Kampf gegen die Pandemie in einem neuen Stadium und bringt neue Aufgaben mit sich“, sagte die 72-Jährige.

Wenige Stunden später lockerten die ersten Städte. In Guangzhou öffneten die Schulen wieder, die stadtweiten Massentests wurden beendet und die meisten Lockdowns aufgehoben. Auch die Provinzhauptstädte Zhengzhou und Chongqing zogen mit ähnlichen Lockerungen nach. Und selbst in Peking dürfen sich seit Freitag erstmals Infizierte in den eigenen vier Wänden isolieren statt in den dafür vorgesehenen Zentren.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Für viele Chinesen dürfte die eingeleitete schrittweise Rückkehr zur Normalität den angestauten Frust dämpfen. Doch die jungen Menschen in Shanghai und Peking werden sich mit Sicherheit nicht damit zufriedengeben. Ihr Protest ist zwar verstummt, doch die Gründe für die Wut der Menschen keineswegs aufgelöst.

Und den Geist der Proteste tragen andere im Ausland weiter. In Hongdae, dem Studentenviertel der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, bekundeten am Mittwoch Dutzende Chinesen ihre Solidarität mit den Protesten in der Heimat. Auch sie hielten DIN-A4-Blätter in die Luft, weiß und unbeschrieben.

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