Warum das Gesundheitssystem die Krankheitswelle kaum auffangen kann

Der jüngste Wochenbericht des Robert-Koch-Instituts zu akuten Atemwegserkrankungen reicht vom 21. bis zum 27. November. In diesem Zeitraum war jeder zehnte Mensch in Deutschland krank: Die Jüngsten husteten sich durch das Respiratorische Synzytial-Virus RSV, die Schulkinder lagen mit Influenza flach und bei den Erwachsenen bestimmte immer noch Corona das Infektionsgeschehen. Dazwischen noch die „ganz normalen“ Schnupfenviren. Die Kurve der Atemwegserkrankungen stieg seit Wochen nach oben und lag auf dem Level der schlimmen Grippewelle 2017/18.

Erste Daten für die Zeit vom 28. November bis 4. Dezember wecken eine gewisse Hoffnung auf eine leichte Entspannung. Aber im Grunde sind die Daten allein betrachtet sekundär. Die schwere Grippewelle im Winter vor vier Jahren wurde erst in nachträglichen Analysen in ihrer ganzen Dramatik erkannt. Mit früheren RSV-Wellen verhält es sich ähnlich. Die Frage ist, auf welches System die Infektionswellen treffen.

Besonders dramatisch präsentiert sich dieses Verhältnis derzeit im Bereich der Kinder- und Jugendmedizin. Es ist richtig, dass die jetzige Infektionswelle bei Kindern besonders hoch ist und jahreszeitlich früh begonnen hat.

Das hat verschiedene Gründe. Eine Art Aufholwelle nach zwei Wintern mit weitreichenden Infektionsschutzmaßnahmen und im ersten Herbst und Winter ohne diese ist gewiss der Wichtigste.

Aber dass Krankheitswellen gerade bei Kindern saisonal auftreten, ist nun wirklich nichts ungewöhnliches und dass sie alle paar Jahre höher ausfallen, auch nicht. Nach fast drei Jahren Pandemie und mindestens zehn Jahren der Verwerfungen und Versäumnisse in der Gesundheitsversorgung ist das System extrem vulnerabel. Wenn ohnehin nur noch zwei Ärz­t:in­nen im Krankenhaus in der Nacht für 60 kleine Pa­ti­en­t:in­nen zuständig sind, diese zusätzlich pflegerische Aufgaben erfüllen müssen, weil die Pflegekräfte fehlen, aus der Notaufnahme Kliniken abtelefoniert werden müssen, weil keine verlässlichen Meldungen über freie Klinikbetten existieren, wenn dann noch eine der zwei Ärz­t:in­nen selbst mit Influenza flach liegt, dann wird aus einer Krankheitswelle eine Versorgungskatastrophe. Wenn in Städten wie Berlin die Zahl der Kinder seit Jahren steigt, die Zahl der behandelnden Kin­der­ärz­t:in­nen aber nicht mithält, sind überfüllte Praxen die zwangsläufige Folge. Das Gesundheitssystem hat keinen Puffer.

Das Gesundheitsministerium hat jetzt damit begonnen gegenzusteuern. Die gesetzlichen Regelungen, die in der vergangenen Woche zur Entlastung von Pflege, Kinder- und Jugendmedizin sowie Geburtshilfe beschlossen wurden, sollen mehr Geld in diese besonders im Missverhältnis stehenden Bereiche bringen.

Ernsthafte Reformen hat Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zusammen mit einer Regierungskommission nun diesen Dienstag vorgestellt. Die Überökonomisierung von Krankenhausleistungen – in den Augen vieler Ex­per­t:in­nen ist das der Ausgangspunkt der Verwerfungen – soll durch ein neues Vergütungssystem überwunden werden. Den Rückstand in der medizinischen Digitalisierung verspricht Lauterbach in einem zweiten großen Reformvorhaben anzugehen.

Manuela Heim