Annektierte Stadt Cherson: Eine russische Flagge weniger

Berichte werfen Fragen auf: Die russischen Soldaten sind in Cherson nicht mehr sichtbar. Sind sie nur in einem Hinterhalt?

eine alte Frau sitzt zusammengesunken auf einem Sofa in ihrem teilweise zerstörten Haus

Eine 67-jährige Frau in ihrem zerstörten Haus in der Region Cherson am 7. November 2022 Foto: Daniel Ceng Shou-Yi/imago

KIEW taz | Die Informationen sind zum Teil widersprüchlich. Von leichtem russischem Gebietsgewinn im Donbass berichtet das US-amerikanische Institute for the Study of War (ISW) am Dienstagvormittag. Die Streitkräfte der Miliz der „Volkrepublik Luhansk“ (LNR) und die Gruppe Wagner seien am Montag in Bilohivka in der Region Luhansk eingedrungen, so das ISW. Demgegenüber berichtet der ukrainische Generalstab, der Feind sei in diesem Gebiet zurückgeschlagen worden.

Widersprüchlich sind auch die Informationen aus der russisch annektierten Stadt Cherson. Schon eine Woche hängt an dem Gebäude der Bezirksverwaltung keine russische Fahne mehr. In der gleichnamigen Region warte man auf die Befreiung, kommentierte der ukrainische Sender TSN am 3. November die heruntergenommene russische Fahne und meldete gleichzeitig, dass die ukrainische Armee in der jüngsten Zeit 90 Ortschaften in dem gleichnamigen Gebiet befreit habe.

Demgegenüber glaubt Armeesprecherin Nataliya Humenyuk, dass die Russen einen Rückzug vom rechten Ufer der Region Cherson nur vortäuschen, um die ukrainische Führung in die Irre zu führen. Vieles spricht dafür, dass die russischen Streitkräfte inkognito in der Stadt bleiben wollen. So berichtet strana.news von russischen Soldaten in Cherson und ringsum am rechten Ufer des Dnjepr. Sie hätten sich massenhaft in Wohnungen evakuierter Bewohner eingenistet und hielten sich dort in ziviler Kleidung auf.

Russland ist bereit für Verhandlungen

Russische Truppen setzten ihre Offensive in dieser Woche im Gebiet Bakhmut, im Abschnitt Awdijiwka-Donezk und im Westen der Region Donezk fort, berichtete das ISW. Kritisch ist auch die Lage im Gebiet Tschernigiw. Angesichts von 234 Luftangriffen in der vergangenen Woche rufe man die Bevölkerung von drei Ortschaften auf, diese zu verlassen, so die Bezirksverwaltung von Tschernigiw.

Im Zusammenhang mit Ermittlungen wegen des Vorwurfs der Geldwäsche gegen den russischen Oligarchen Alischer Usmanow haben Ermittler am Dienstag den Sitz und eine Filiale der UBS Bank in Frankfurt am Main und München durchsucht. Im September waren Usmanows Anwesen am Tegernsee und dessen Jacht durchsucht worden.

Die Ermittler erhoffen sich von der Razzia Erkenntnisse zu Transaktionen Usmanows. Er soll Kunde der durchsuchten Bank gewesen sein. „Wir kooperieren vollumfänglich mit den Behörden, wie das in solchen Fällen üblich ist“, teilte die UBS mit.

Usmanow soll laut den Ermittlern einen mehrstelligen Millionenbetrag verschoben und gegen die EU-Sanktionen verstoßen haben, die wegen des russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verhängt wurden. Er gilt als Vertrauter des russischen Staatschefs Wladimir Putin. Sein derzeitiger Aufenthaltsort ist unklar. (afp)

Im russisch annektierten Donezk ist eine 14-Jährige bei einem Angriff ums Leben gekommen, meldet strana.news unter Berufung auf russische Telegram-Kanäle. Auch andere Wohnhäuser in Donezk und die Eisenbahnverwaltung seien beschossen worden.

Währenddessen scheint eine Verhandlungslösung zwischen der Ukraine und Russland in weiter Ferne zu liegen – trotz internationaler Vermittlungsversuche. Der letzte Kontakt von Vertretern beider Länder fand am 17. Oktober statt, als sich die Menschenrechtsbeauftragten Dmitri Ljubinetz aus der Ukraine und Tatjana Moskolkowa aus Russland bei einem Gefangenenaustausch an der Front trafen. Beide haben Zugang zu ihren jeweiligen Präsidenten.

Russland sei zu Verhandlungen ohne Vorbedingungen bereit, zitiert interfax.ru am Dienstag den stellvertretenden russischen Außenminister Andrej Rudenko. Die Ukraine stellt Bedingungen für eine Verhandlung: ein vollständiger russischer Abzug aus der Ukraine, Reparationen und Garantien, die eine Wiederholung eines russischen Angriffs auf die Ukraine ausschlössen. Das erklärte Präsident Selenski in seiner abendlichen Ansprache.

Ukrainische Pazifistin bekommt vor Gericht recht

Möglicherweise ist Russlands neue Verhandlungsbereitschaft auch der Erkenntnis geschuldet, dass der Krieg angesichts wachsender Verluste zusehends an Akzeptanz verliert. So berichtet das russische oppositionelle Portal Meduza am Montag von russischen Marineinfanteristen aus dem Fernen Osten, die sich in einem Appell an ihren Gouverneur über schwere Verluste beklagen. In vier Tagen habe man 300 Mann verloren. Hunderte Soldaten waren völlig unvorbereitet und unausgerüstet dem feindlichen Beschuss ausgesetzt worden und starben.

Unterdessen hat die ukrainische Pazifistin Elvira (ihr Nachname wird in ukrainischen Medien nicht genannt) einen Prozess gegen ihre Universität gewonnen. Die Frau, die an der Universität für Agrarwirtschaft in Bela Zerkow Veterinärmedizin studiert, hatte im Juli auf Instagram die ukrainischen Soldaten aufgefordert, die Waffen niederzulegen.

„Ich spende absichtlich nicht für die Streitkräfte und esse kein Fleisch, weil ich gegen das Töten bin, und ich unterstütze den Krieg nicht. Ich sehe die vernünftigste Lösung in diesem Krieg darin, dass wir die Waffen niederlegen und den Feind mit offenen Armen empfangen. Es klingt seltsam, aber es ist das Vernünftigste, was ein vernünftiger Mensch tun kann“, hatte sie geschrieben. In einer eigens einberufenen Sitzung hatte sich die Leitung der Universität entschieden, Elvira deshalb zu exmatrikulieren.

Im September hatte Elviras Anwalt dagegen Klage eingereicht. Die Exmatrikulation sei eine „Diskriminierung aus politischen und religiösen Gründen, die gegen die verfassungsmäßigen Rechte verstößt“, ließ Elvira über ihren Anwalt mitteilen. Am Montag wies das Gericht die Universität an, die Exmatrikulation rückgängig zu machen und die Kosten des Verfahrens zu tragen.

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