Gentrifizierung in Berlin: Viel Platz für freies Denken

Das Zentrum für Kunst und Urbanistik wird nicht nur energetisch saniert, sondern auch erweitert. Das ist eine große Erfolgsstory.

Die provisorischen Bühne vorm Zentrum für Kunst und Urbanistik in Moabit Foto: Sophie Kirchner

Es ist so bitterkalt und nass, dass sich die Menschen mit den hochgezogenen Schultern, die vom einen Bein aufs andere treten, nur mit Mühe von den Feuerschalen vorm ehemaligen Güterbahnhof Moabit lösen lassen.

Doch als die Reden auf dem großen Baugerüst beginnen, lösen sich doch die Leute von der Wärme und treten näher, immerhin ist heute ein großer Tag, denn am Zentrum für Kunst und Urbanistik, kurz ZK/U genannt, das seit 2013 den Güterbahnhof bespielt, wird Richtfest gefeiert. „Wir haben uns den kältesten Tag des Jahres ausgesucht, weil wir Widerstände lieben“, sagt Matthias Einhoff vom Künstlerkollektiv KUNSTrePUBLIK, das hinterm ZK/U steht.

Und damit hat Einhoff eigentlich gleich schon das Wichtigste zu diesem wunderbaren Ort zwischen dem Westhafen und dem immer schicker werdenden Kiez rund um den U-Bahnhof Birkenstraße mitten im Stadtgarten Moabit gesagt. Das ZK/U ist nicht nur eine der spannendsten Adressen, wo sich zeitgenössische Kunst und stadtpolitische Diskurse auf eine angenehm unabgehobene Art treffen.

Es ist auch einer der wenigen Orte in Berlin, den seine Ma­che­r*in­nen mit viel Geduld und Geschick einer Stadtentwicklung entrissen haben, in der sich zunehmend alles um Verdichtung und Verteuerung dreht. „2008 haben wir beschlossen, an dieser Stelle einen Wettbewerb für einen Park ohne Gebäude auszuloben“, sagt Mittes Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung Ephraim Gothe (SPD) beim Richtfest.

Krise Steigende Energie-, Bau und Rohstoffpreise gefährden zunehmend die Finanzierung der stadtpolitischen Modellprojekte. Sven Lemiss, Chef der landeseigenen Berliner-Immobilien-Management, kritisierte im Tagesspiegel, dass trotz der politischen Beschlüsse die Finanzierung des Hauses der Statistik nicht mehr gesichert ist. Damit sei der gemeinwohlorientierte Umbau des Betonbaus am Alexanderplatz abhängig vom Ausgang der Neuwahlen. Auch am Dragonerareal fordert Steffen Helbis, Chef der beteiligten landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft Mitte, eine Verringerung gemeinwohlorientiert vermieteter Flächen, damit das Projekt finanzierbar bleibe. (jowa)

Er berichtet, wie der Güterbahnhof abgerissen werden sollte und wie er durch Zufall von dessen Gewölbekeller erfuhr. Und wie viel Überzeugungskraft es brauchte, den Erhalt dieses Gebäudes in einer Zeit durchzusetzen, als Berlin noch so pleite war, dass es alle Liegenschaften verkaufte.

Eine weise Entscheidung

Das Projekt auszuschreiben und dann den Leuten vom ZK/U zu geben war eine weise Entscheidung, haben sie doch viel über die voller werdende Stadt geforscht, Projekte auf Brachen auf die Beine gestellt, die es heute nicht mehr gibt, und protestiert gegen die Übermacht des Kapitals, das andere Städte schon sehr viel kaputter gemacht hat.

Zum Beispiel bauten sie Skulpturenparks auf Brachen, führten Opern in ausgebrannten Autos auf oder bauten Miniaturplattenbauten für Bienen, wo heute Bürohäuser oder Luxusapartments wie die Fellini Residences stehen. Bis heute kämpfen sie um jeden Quadratmeter in dieser Stadt, sind beispielsweise Mitglied bei der Initiative Haus der Statistik am Alexanderplatz, wo in den nächsten Jahren nicht etwa wie in diesem Kiez üblich öde Shopping Malls entstehen, die kein Mensch braucht, sondern viel sozialer Wohnraum und Arbeitsräume für Kunst und Kultur. Sie haben viel getan für all jene, die noch immer hoffen, dass Berlin für immer die Hauptstadt der Eigensinnigen bleiben möge.

Es ist also ein schöner Tag am ZK/U, trotz Kälte. Das Gebäude ist dank Erbpacht weitere 30 Jahre gesichert, außerdem wird das Haus – wenn alles gut geht – in den nächsten Monaten energetisch saniert und einen Erweiterungsbau erhalten, der mit drei Millionen Euro von EU, Bund und Land Berlin im Rahmen der Zukunftsinitiative Stadtteil gefördert wird.

„Die bisherige Veranstaltungshalle wird durch eine transparente Hülle eingehaust und dabei in ihrem ursprünglichen Charakter erhalten bleiben“, fasst Staatssekretärin für Mieterschutz und Quartiersentwicklung Ülker Radziwill (SPD) bei ihrem Grußwort zusammen. „Auf der Halle entstehen Arbeits- und Veranstaltungsräume“, ergänzt Harry Sachs vom Künst­le­r*in­nen­kol­lek­tiv KUNSTrePUBLIK wenig später bei einem heißen Apfelsaft und üppig belegten Broten in der ehemaligen Veranstaltungshalle.

Mehr Experimente, mehr Nachbarschaft

In der Aufstockung werden weitere Arbeits- und Veranstaltungsräume entstehen, die dem dringenden Raumbedarf von kulturellen und sozialen Initiativen nachkommen. Und obendrauf kommt eine öffentlich begehbare Terrasse – insgesamt also „viel mehr Platz für Experimente, Nachbarschaft und Veranstaltungen“, freut sich Sachs.

Bis zum Ende des Ausbaus liegen Veranstaltungen wie das berühmte Speisekino – eine kuratierte Filmreihe mit passendem Essen –, leider weitgehend auf Eis.

Dafür arbeiten die Künst­le­r*in­nen und Wis­sen­schaft­le­r*in­nen aus aller Welt in den 13 Arbeitsräumen des Hauptgebäudes weiter, die jeweils zwei bis sechs Monate lang vom ZK/U im Rahmen unterschiedlicher Programme eingeladen sind, sich mit dem urbanen Lebensraum zu befassen. Einer der Fellows, die gerade hier sind, ist der Erzähler Jesse Gerard aus Tansania, der unter anderem an der Bewahrung und Wiederherstellung indigener Geschichten im globalen Raum arbeitet.

Matthias Einhoff, Harry Sachs und Philip Horst (v. l. n. r.) Foto: Sophie Kirchner

Er ist im Rahmen des TURN2-Programms hier, einem Rechercheaufenthaltsprogramm für Nach­wuchs­ku­ra­to­r*in­nen für postkoloniale Themen, das in Zusammenarbeit von ZK/U und der Kulturstiftung des Bundes entstanden ist. Am 24. November öffnen die Residents des ZK/U wieder die Türen ihrer Ateliers.

Übrigens: Das neue Dach, das an diesem Tag eingeweiht wird, erinnert gar nicht so wenig an das alte, das erst in diesem Sommer munter durch die Presse ging.

Einfach umgedreht

Die Leute vom ZK/U hatten es einfach umgedreht und zum tonnenschweren Dachboot namens Citizenship ausgebaut, das aussah wie ein besetztes Haus auf dem Wasser. Nachhaltig, mit Solarpaneelen und E-Motor, Segeln aus Altkleidern und viel Hilfe von Besucher*innen, An­woh­ne­r*in­nen und Pas­san­t*in­nen und deren Paddeln, Radeln, Ziehen und Schieben wollten sie damit 60 Tage lang zur Documenta nach Kassel schippern.

Doch dann lief das Citizenship in der Weser wegen niedrigem Pegelstand auf Grund und sitzt bis heute im Doktorsee bei Rinteln fest. Im September haben sie das Boot winterfest gemacht, mal sehen, was im nächsten Jahr damit passiert. „Wir wollten aufzeigen, wie man ohne fossile Brennstoffe eine solche Reise machen kann, und dann scheitert die am Klimawandel“, lacht Einhoff.

Offenbar haben sie am ZK/U wirklich einen Narren gefressen an den sogenannten widrigen Umständen.

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