Ausgehen und rumstehen von Ruth Lang Fuentes
: Brownies, eine halbe Stunde Charlottenburg und der erste Schnee

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Natürlich sind wir wieder mal viel zu spät dran. Aber dafür nun endlich unterwegs in der U-Bahn Richtung Charlottenburg, eine große Schüssel frisch gebackener Brownies unterm Arm. In zwei Varianten: Einmal „normal“ und einmal „langweilig“. Einen normalen haben wir beide jeweils eben schon in der Küche probiert.

„Falls es dir zu bürgerlich wird, sag Bescheid“, sagst du, als wir Haltestation Bismarckstraße aussteigen. Es nieselt und ist unglaublich kalt. Winter in Berlin eben.

„Was meinst du mit bürgerlich?“ Wir stehen vor einem Westberliner Altbau, ich erwarte fast schon, dass jemand gleich mit Champagner und Austern die Tür öffnet.

„Na ja, die sind schon etwas bürgerlich bei meiner Familie, hatte ich das nicht erwähnt?“, sagst du, während du dir noch ein halbes Stück Brownie aus der Schüssel pickst. „Äh, nee“, sage ich und nehme einfach die andere Hälfte. „Guten Abend.“ Wir betreten das Wohnzimmer. Ziemlich verfroren, weil wir dachten, Lederjacken wirken cooler als Winterjacken. Und offenbar wirklich viel zu spät.

Um die zehn Menschen sitzen am weiß gedeckten Tisch, jeder an seinem Platz, vor ihnen leer gegessene Teller. Betretenes Schweigen. Und gleichzeitig merke ich, wie die Brownie-Wirkung gerade in diesem Moment richtig einsetzt. Jedenfalls sehen die Essensreste auf dem Tisch plötzlich unglaublich appetitlich aus.

Leichter Jazz im Hintergrund dringt aus den Tiefen des Wohnzimmers zu mir durch. Und katapultiert mich durch die weiße Tischdecke und die gefalteten Stoffservietten für ein paar Sekunden an einen Ort, den ich dachte längst hinter mir gelassen zu haben. Von dem ich dachte, wenigstens hier in Berlin sicher zu sein. Einen Ort des Anstands, der Kuchengabeln und des Smalltalks. Ich schrecke zurück in die Realität. Das sind nur die Brownies, versuche ich mir einzureden, alles ist gut. Und so gebügelt ist die Tischdecke auch nicht.

„Wir haben euch was mitgebracht!“, sagst du freudestrahlend. Stellst die Schüssel mitten auf die gedeckte Tafel. „Frisch aus Kreuzberg – zwei Sorten Brownies …“

„Mit und ohne Nüsse?“

„Ja, so in der Art.“

Der Typ vor mir nimmt sich sofort einen – mit den Nüssen. Ich habe keine Zeit zu hoffen, dass er verstanden hat, was er da gerade isst. Einerseits, weil ich gerade für die meisten schnellen Reaktionen gefühlt nicht genug Zeit habe, weil sich Coltranes Sax aus dem Hintergrund wieder in mein Gehirn bohrt und weil der Typ gleichzeitig anfängt, mir zu erzählen, welchen Film er letztens im Kino gesehen hat: „‚Triangle of Sadness‘, Cannes-Gewinner, genial! Den musst du gesehen haben.“

Ich nicke und versuche unauffällig an das Essen zu gelangen.

„Da wird diese burgeoise Bubble so richtig zerlegt, super!“

„Also ich fand den ja nicht so amüsant, immer auf die Reichen, … nicht wirklich originell …“, mischt sich die Frau neben ihm ein. Auch sie nimmt sich einen von den nicht langweiligen Brownies und reicht die Schüssel weiter.

„Aber eine Luxusjacht mit einem kommunistischen Kapitän, die untergeht, das ist doch genial.“ Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Typ gerade zum zweiten Brownie fasst. Und dass so ungefähr eine halbe Stunde jetzt vergangen sein muss, seitdem wir hier sind. Und dass die echt nicht gecheckt haben, dass das „special ingredient“ nicht nur die Nüsse sind. „Das Schiff geht unter“, flüstere ich dir zu. „Was meinst du?“ – „Wir müssen dringend hier weg, glaub mir!“

Kotti. Ich atme ein und wieder aus. Wirklich klirrend kalte Luft ist das hier. Und es riecht nach Benzin und Gras und Hundescheiße, aber immerhin nicht nach leer gefegten Straßen und Geld. Schneeflocken fallen. Die ersten dieses Jahr. Der Kotti sieht fast schön aus.

„Lass uns ein Bier beim Späti holen.“ – „Und ins Kino. ‚Triangle of Sadness‘ soll sehr gut sein.“ Im Sputnik Kino ist es warm, und es macht echt Spaß, der Luxusjacht auf der Leinwand beim Untergehen zuzuschauen.

Fazit: wirklich zu empfehlen, der Streifen. Charlottenburg auf Brownies hingegen kann man sich schon eher zweimal überlegen.