Nato-Beitritt von Schweden: Stockholms Wahlhilfe für Erdoğan

Der schwedische Regierungschef reist nach Ankara. Dort will er mit einer Kehrtwende in der Kurdenpolitik die Blockade zum Nato-Beitritt lösen.

Schwedens neuer Regierungschef Ulf Kristerrson for den Flaggen Schwedens und der Nato im Nato-Hauptquartier in Brüssel am 20. Oktober 2022.

Will eine schnelle Lösung des Nato-Beitritts als ersten außenpolitischen Erfolg: Ulf Kristersson Foto: Yves Herman/Reuters

STOCKHOLM taz | Wenn Schwedens Ministerpräsident Ulf Kristersson am Dienstag in Ankara dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan seine Aufwartung macht, kommt er nicht mit leeren Händen. Die Zeit, in der Stockholm der kurdischen YPG in Syrien und deren politischem Zweig, der PYD-Partei, humanitäre Hilfe geleistet habe, sei vorbei, sagte Tobias Billström, der Außenminister der neuen blau-braunen Regierung, am Samstag in einem Interview.

Das ist eine Kehrtwende. Die letzten beiden sozialdemokratisch geführten schwedischen Regierungen haben die YPG und die PYD politisch und finanziell unterstützt. Im letzten Jahr kündigten die Sozialdemokraten eine Aufstockung der Hilfe an.

Solche Unterstützung sei „nicht gut für die Beziehungen zwischen uns und der Türkei“, begründet Billström den neuen Schwenk: „Schwedens Mitgliedschaft in der Nato wiegt schwerer.“ Es sei von großer Bedeutung, „Fortschritte bei den Verhandlungen mit der Türkei zu machen“. Dabei stünden YPG und PYD im Wege: „Diese Organisationen haben zu enge Verbindungen zur PKK, die ja der EU als Terrororganisation gilt.“

Damit opfert Schwedens neue Regierung drei Wochen nach Amtsantritt YPG und PYD, die Verbündete des Westens im Kampf gegen die IS-Terrormiliz waren. Damit schwenkt Schweden nicht nur aus der gemeinsamen Linie der meisten westeuropäischen Länder aus, sondern nähert sich auch Erdoğans Gleichstellung von PKK und YPG an.

Kristersson: „Sehr viel Verständnis“ für Erdoğans Sorgen

Was steht als Nächstes an? Regierungschef Kristersson reagiert auf diese Frage bislang ausweichend. Natürlich halte sich seine Regierung an schwedisches Recht und internationale Konventionen, betont er. Zugleich halte er den Antiterrorkampf der Türkei für „legitim“, habe „großen Respekt für die Beschlüsse Ankaras“ und „sehr viel Verständnis“ für Erdoğans Sorgen. Selbstverständlich müsse sich Schweden auch an mit der Türkei getroffene Abkommen halten.

Die Türkei hat neben Ungarn, das offenbar eine türkische Entscheidung abwartet, als letzter Staat der Nato-Erweiterung noch nicht zugestimmt. Eine Mitgliedschaft Finnlands könne die Türkei mittlerweile separat akzeptieren, sagte Erdoğan kürzlich, nicht aber die Schwedens.

Stockholm habe nämlich bisher nicht die „notwendigen Schritte“ unternommen, sagt er am Freitag nach einem Treffen mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Schweden sei eine „Brutstätte des Terrorismus“ und gefährde die Sicherheit der Türkei auch deshalb, weil es AktivistInnen der kurdischen PKK Asyl gewähre.

Zu Erdoğans zehn Forderungen an Schweden hatte neben der Einstellung jeglicher Unterstützung für die syrisch-kurdische YPG/PYD, die Stockholm nun zusagte, die Auslieferung von bis zu 73 „Terroristen“ gehört.

Im Juni hatten Schweden, Finnland und die Türkei beim Nato-Gipfel in Madrid ein „trilaterales Memorandum“ unterzeichnet. Darin sind die beiden Beitrittskandidaten der Türkei weit entgegengekommen. Sie verpflichteten sich, die Aktivitäten aller „terroristischen Organisationen und deren Ableger, ebenso wie der von Einzelpersonen, Gruppen und Netzwerken, die mit diesen verbunden sind“, zu verhindern.

Außenpolitik-Institut: „Stockholm stärkt Erdoğans Narrativ“

Damit haben sie aus türkischer Sicht nichts anderes versprochen als „eine Unterstützung der Inhaftierung von Oppositionsabgeordneten, gewählten Lokalpolitikern, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten“, kritisiert Thomas Hammerberg, früherer Menschenrechtskommissar des Europarats.

Stockholm habe sich „türkischen Interessen angepasst“, heißt es auch in der Analyse des schwedischen Außenpolitischen Instituts (UI). Erdoğan könne sich nun als der starke Führer präsentieren, der „laschen europäischen Staaten, die ihre Straßen nicht frei von Terroristen halten können“, auf die Sprünge helfe. Das stärke sein Narrativ von der Türkei als Großmacht und lenke von dessen ernsten wirtschaftlichen Problemen ab.

Die Analyse sieht im „Madridabkommen“ ein neues Element der schwedischen Politik. Es enthalte Zugeständnisse an einen ausländischen Staat, wie sie Stockholm in den letzten Jahrzehnten nie gemacht habe: „Bei der Abwägung zwischen realpolitischen Erfordernissen und rechtsstaatlichen Prinzipien balanciert man auf einem sehr schmalen Grat.“

Der wird womöglich noch schma­ler, nachdem die Regierung verkündet hat, den Rechtsschutz im Ausländerrecht weiter aufzuweichen. Laut Regierungsprogramm, das die Handschrift der rechtsextremen Schwedendemokraten trägt, will sie Rechtsgrundlagen zum Entzug des Aufenthaltsrechts für Nichtstaatsangehörige schaffen, wenn diesen „fehlerhafter Lebenswandel“ oder „Anmerkungen zur Lebensart“ vorzuwerfen sind oder ihr Aufenthalt „grundlegende schwedische Werte bedroht“.

Kurden in Schweden fürchten jetzt Auslieferung

Zu den türkischen Forderungen „haben wir eine andere Position“ und nicht das „Gepäck“, das die Sozialdemokraten „mit der Kurdenfrage“ gehabt hätten, sagt Außenminister Billström. Deshalb finde man mit Erdoğan vermutlich „leichter“ eine Lösung.

Auffallend nannte der Minister in seinen Statements zur Türkei wiederholt diese „Demokratie“. Auch nach Mediennachfragen hielt er an dieser Charakterisierung fest. Es gebe dort ja „freie Wahlen“. Das beweise „entweder völlige Unkenntnis oder sei bewusste Unwahrheit“, kritisierte ihn der Staatswissenschaftler Staffan Lindberg, Leiter des Demokratieforschungsinstituts der Universität Göteborg.

Er sei „echt besorgt“, ausgeliefert zu werden, zitierte die Tageszeitung ETC den kurdischen Verfasser Hamza Yalzin, der vor fünf Jahren wegen eines von der Türkei über Interpol erwirkten Haftbefehls schon einmal in Auslieferungshaft saß: „Erdogan hat die Nachgiebigkeit der schwedischen Politiker gesehen.“ Er werde „deshalb weiter Druck machen, um Zugeständnisse zu bekommen“.

Die Zeit arbeitet eigentlich für Schweden

„Stück für Stück gibt man ihm nach“, schreibt der aus Kurdistan stammende Verfasser Kurdo Baksi in Dagens Nyheter. Erst habe Stockholm im Sommer das 2019 gegen die Türkei verhängte Waffenembargo aufgehoben und liefere wieder Militärmaterial, nun folge ein Staatsbesuch, mit dem Kristersson „einen Despoten ehrt, der vielleicht nur noch ein paar Monate an der Macht ist“. Schwedens Regierungschef sei für den international zunehmend isolierten Erdoğan „ein Geschenk des Himmels“. Kristersson lasse sich als Wahlhelfer einspannen.

Finnische PolitikerInnen reagierten verwundert auf Schwedens Kursänderung in Sachen YPG/PYD. Diese sei „sehr unglücklich“, erklärte die liberale Parlamentsabgeordnete Eva Biau­det, Schweden habe „sich erpressen lassen“: Finnland werde seine Haltung nicht ändern.

Auch die UI-Analyse rät davon ab, sich wegen des Nato-Beitritts unter Druck setzen zu lassen. Für Schweden arbeite die Zeit: „In der Türkei nähert sich der Wahlkampf, und dort will die Regierungspartei AKP den Wählern offenbar internationale Erfolge präsentieren können, bevor die innenpolitische Bedeutung des Themas nach der Wahl wieder schwinden dürfte.“

Kristersson aber scheint die Vollendung des Nato-Beitritts unbedingt zu seinem ersten außenpolitischen Erfolg machen zu wollen.

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