Vom Kind zum Künstler

Eine Ausstellung in Braunschweig zeigt, wie der junge Max Beckmann um 1900 in der Stadt zum Künstler wurde. Den reifen Beckmann lernt man im Staatstheater kennen

Noch viel vor: Selbstbildnis Max Beckmanns von 1901 Foto: Braunschweigisches Landesmuseum

Von Bettina Maria Brosowsky

Wer denkt, dass zu den Heroen (und den wenigen Heroinnen) einer klassischen Moderne der deutschen Kunst eigentlich schon das meiste bekannt sein sollte, wird gelegentlich doch eines Besseren belehrt. Der in vielen Gattungen produktive und als Verfemter des NS-Regimes zwangsläufig polyglotte Max Beckmann, 1884 in Leipzig geboren, 1950 in New York verstorben, wäre so ein Fall. Eine große Ausstellung der Kunsthalle Hamburg etwa wollte 2020/21, nach Kritiken aber nicht so recht überzeugend, das ambivalente bis fluide Geschlechterbild Beckmanns schmackhaft machen – ausgerechnet eines Künstlers, der sich in mehr als 100 Selbstporträts eher als kantiger, harter Mann inszenierte und seine beiden Ehefrauen bewegte, eigene künstlerische Ambitionen zurückzustellen. Immerhin: in Hamburg hätte man Beckmanns Lieblingsgetränk, den Champagner, in Verkostungsseminaren vertieft kennenlernen können.

Unglücklich in Braunschweig

Das Braunschweiger Herzog Anton Ulrich-Museum geht nun der Frage nach, wann und wie Beckmann eigentlich zum Künstler wurde. Und verortet diese Bewusstseinswerdung, oder in Beckmanns eigenen Worten: seine „embryonalen Regungen“ – genau: in Braunschweig. Hier verbrachte Max Beckmann zwischen 1895 und 1900 einige Jugendjahre, kam bis zum Tod der Mutter, 1906, zudem zyklisch ins Okerstädtchen zurück. Und hier soll er in dem ausrichtenden Museum die Klassiker studiert haben, immer wieder zu Rembrandts Familienbildnis gepilgert sein.

Denn, erneut mit den eigenen Worten Beckmanns gesprochen, anno 1903 nach einem Besuch des Rijksmuseums Amsterdam ins Tagebuch notiert: „Also über Rembrand [sic]. Manchmal sehr schön, die Nachtwache finde ich langweilig, ich finde alle können nicht gegen sein Braunschweiger Familienportrait an.“ Und in der Tat ist dieses Bild bemerkenswert. Fast impressionistisch flirrend in pastosem Farbauftrag verfasst, in Statur und Physiognomien, besonders der Kinder, karikaturhaft überzeichnet, war es somit seiner Entstehungszeit (vermutet in den Jahren 1665 bis 1668) weit voraus, war „modern“ avant la lettre.

Glücklich waren Beckmanns Braunschweiger Jahre jedoch nicht. Nach dem Tod des Vaters fungierte sein ehrgeiziger, als Maurermeister ins Bürgertum aufgestiegener, gut situierter Onkel Friedrich Beckmann als Vormund. Mutter und Sohn zogen mehrfach um, wenngleich stets in standesgemäße Räumlichkeiten. Max schmiss die Schule hin, ein „greiser Zeichenlehrer“, der Hofmaler August Theodor Tunica, trug wohl dazu bei, motivierte ihn, im Umkehrschluss, jedoch zur Fundamentalopposition durch die Kunst, auch gegen die Familie.

Von mangelndem Selbstbewusstsein keine Spur, fasste Beckmann bereits 1899 den Entschluss, „weltgrößter Künstler“ zu werden. Ein Jahr später, als 16-Jähriger ohne Schulabschluss, wurde er aufgrund seiner offenkundigen Fähigkeiten zum Kunststudium zugelassen, wenn auch nicht, wie beabsichtigt, in Dresden, sondern an der Großherzoglichen Kunstschule in Weimar. Zur Bewerbung hatte er ein kleines Landschaftsstück vorgelegt: die Fischteiche des Zisterzienserklosters Riddagshausen im Osten Braunschweigs. Ausschlaggebender, vermutlich, war sein Skizzenbuch, unter anderem mit Selbstbildnissen – ein sehr frühes als „schlecht“ verworfen und durchgestrichen – sowie Porträts oder Studienzeichnungen zu Rubens und anderen Alten Meistern.

Dieses Skizzenbuch, im Besitz der National Gallery of Art in Washington, bildet nun in digitalisierten Leuchtbildern das Grundgerüst der Braunschweiger Ausstellung. In fünf nicht unbedingt trennscharfen Kapiteln werden von der „Herkunft“ über die „Berufung“ und den „Aufbruch“ bis zur lebenslangen „Inspiration“ die Brauschweiger Jahre rekapituliert. Das wirkt mitunter etwas bemüht, selbst wenn das einleitende große Triptychon „The Beginning“, 1949 kurz vor seinem Tod in den USA fertiggestellt, auch Beckmanns dann vielleicht doch nicht ganz so unerquicklichen Schuljahre thematisiert. In den Unterrichtsstunden nämlich widmete er sich seiner kleinen Bilderfabrik, „deren Erzeugnisse von Hand zu Hand gingen und manchen armen Mitsklaven auf einige Minuten über sein trübes Schicksal hinwegtäuschten“, so soll er es bereits 1923 einmal berichtet haben.

Beigestellt sind Originale des Frühwerks: ein pointiertes „Selbstporträt mit Strohhut“ von 1903 etwa, ein Kreidebildnis des Onkels aus demselben Jahr oder monumentale Malereien. Seine „Große Sterbeszene“ übersteigert 1906 den qualvollen Krebstod der Mutter ins Surreale, die „Sintflut“ von 1908 ein biblisches Sujet. Diese zeitliche Selbstbeschränkung lässt die Besu­che­r:in­nen dann leider den „typischen“, weil späteren, reifen Beckmann nicht kennenlernen: seine Großstadtbilder mit ihrem lasterhaften Treiben, seine Erotizismen, die Machismen in seiner permanenten Selbststilisierung.

Von mangelndem Selbstbewusstsein keine Spur, fasste Beckmann bereits 1899 den Entschluss, „weltgrößter Künstler“ zu werden

Lesung in Beckmanns Wohnung

Derartige Defizite kompensiert das Staatstheater Braunschweig in seinem Kooperationsprogramm. Denn neben der Kunst prägten Literatur, Bühne und Musik – Favorit hier: bemerkenswerterweise Wolfgang Amadeus Mozart – nicht nur den jungen Beckmann, animierten ihn zu eigenen Versuchen. Relativ unbekannt ist Beckmanns Schauspiel „Das Hotel“, geschrieben 1921, als szenische Lesung wird es nun aufgeführt. Sein Protagonist, Hoteldirektor Zwerch, schwankt als eine Art Alter Ego Max Beckmanns zwischen seiner Frau und seiner Geliebten – und treibt letztlich beide in den Tod.

Im Salon einer der Beckmann’schen Wohnungen, der heute die Schauspieldramaturgie beherbergt, liest Götz van Ooyen unter dem Motto „Zuhause“ aus Briefen und Selbstzeugnissen, und das Staatsorchester widmet Beckmann gleich drei Sinfoniekonzerte. Darunter sind die Uraufführung „The Beginning – Fünf Beckmann-Bilder für Orchester“ des Leipziger Komponisten Steffen Schleiermacher sowie sein „Porträt mit Saxophon – Hommage à Max Beckmann“, das dessen Vorlieben für die Halbwelt der Varietés und Kabaretts nachspüren wird.

Bleibt bei so viel Max Beckmann in Braunschweig eigentlich nur noch die Frage nach einer würdigen Straßen- oder Platzbenennung – der schnöde Verkehrskreisel in der Nähe von Museum und Theater ist es sicher nicht.

Max wird Beckmann. Es begann in Braunschweig, bis 12. 02. 2023 im Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig

https://3landesmuseen-braunschweig.de/herzog-anton-ulrich-museum/max-wird-beckmann

Beckmann im Theater: „Zuhause“, 30. 11., 19.30 Uhr, Magnitorwall 18; „Das Hotel“, 25. und 27. 11, Aquarium im Kleinen Haus des Staatstheaters; Sinfoniekonzerte: 27./28. 11., 18./19. 12. und 29./30. 01. 2023, Großes Haus; „Die Geschichte vom Soldaten“ (Igor Strawinsky): ab 04. 02. 2023, Kleines Haus