Der Mythos des Verkannten

Wie eine beleidigte Diva: Es war keine Liebesgeschichte zwischen Tom Stromberg und dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Erst am Ende der fünfjährigen Intendanz brachte er das Theaterschiff zurück auf den Canal Grande, ohne den Ballast von unentdeckten Talenten und Theatertherapien

VON TILL BRIEGLEB

Wenn Tom Stromberg dieser Tage das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg verlässt, um mit Peter Zadek einen Tourneetheaterbetrieb zu gründen, hat er die schlimmsten Erwartungen an seine fünfjährige Intendanz zum Glück doch nicht erfüllt. Weder hat er den finanziellen Abwärtstrend seiner ersten vier Jahre als Chef fortgesetzt, noch endete seine Leitungszeit mit dem künstlerischen Offenbarungseid. Vielmehr hinterlässt Stromberg seinem Nachfolger Friedrich Schirmer, der am 1. August sein Amt in Hamburg antritt, eine halbe Million Euro an Überschuss, und mit der Einladung der Schauspielhaus-Produktion „Othello“ zum Berliner Theatertreffen ist eine letzte Spielzeit gekrönt worden, die künstlerisch überzeugen konnte. Was ist da geschehen? Oder anders gefragt: Warum kam der Erfolg so spät?

Für Stromberg selbst ist der Fall lange klar. In seinem Abschiedsbrief an das Publikum spricht er von jahrelangen „Schmähungen“, die seine künstlerische Leistung herabgewürdigt hätten, er benennt Intrigen, Neid und Vorverurteilungen als Ursachen für den mangelnden Erfolg und findet die Schuldigen für seine lange Missachtung – nicht besonders überraschend – im Berufsstand des Journalisten. Schon während seiner ersten Saison, als er nur Verrisse für die naive Vorstellung erntete, er könne mit Künstlern der freien Szene, Frischlingen und ohne starke Dramaturgie das größte deutsche Sprechtheater allein nach seinem persönlichen Geschmack bespielen, stopfte er vor laufender Kamera die gesammelten deutschen Feuilletons in einen öffentlichen Abfalleimer.

Noch im dritten Jahr seiner Intendanz, als eine sehr ernsthafte Finanzkrise eintrat, weil die Vorstellungen vor nahezu leerem Haus stattfanden und Stromberg zu allem Überfluss mit der überforderten Hamburger Kultursenatorin Dana Horakova einen sinnlosen Streit vom Zaun brach, blieb er seinem Verhalten der beleidigten Diva treu. Wiederum im Fernsehen erklärte er, sein einziger Fehler sei gewesen, einen erfolgreichen Intendanten beerbt zu haben.

Die vorherige Intendanz Frank Baumbauers, dem es nach Jahrzehnten kulturpolitischer Schlachten um das Schauspielhaus mit seinem Team erstmals wieder gelungen war, einen innovativen Theateransatz künstlerisch wie kommerziell zum Erfolg zu führen, bedeutete sicherlich ein schwieriges Erbe für jeden Nachfolger – allerdings nicht finanziell, denn Baumbauer hinterließ Stromberg 2,5 Millionen Euro. Aber die trotzige Haltung Strombergs, die Schuld bei anderen zu suchen, während er um sich selbst den Mythos des verkannten Impresarios konstruierte, hatte viel fatalere Auswirkungen als die hohe Messlatte der Baumbauer-Jahre.

Enge Mitarbeiter, von denen viele nach kurzer, heftiger Leidenszeit das Haus wieder verließen, bezeichneten ihn unisono als „kritikresistent“. Und damit war nicht seine Abweisung externer Vorwürfe gemeint, die krasse Fehler in der Leitung des Hauses und in seiner Selbstdarstellung nach dem Motto „Das Theater bin ich!“ anmerkten, sondern vor allem die Arroganz, mit der Stromberg interne Korrekturvorschläge abbügelte. Es war Selbstüberschätzung, mit der er seine berufliche Biografie, die vom Management der kleinen Frankfurter Experimentierbühne TAT zum Organisator eines recht beliebigen Expo-Kulturprogramms geführt hatte, für ausreichend hielt, einen Schauspielbetrieb von rund 400 Mitarbeitern, 1.200 Plätzen und noch mehr brennenden Problemen zu führen.

Mittlerweile gesteht Stromberg in selbstkritischen Interviews die Überforderung der ersten Jahre zwar ein. Aber unterstützt von der Fehleinschätzung der damaligen Hamburger Kultursenatorin und heutigen Staatsministerin für Kultur, Christina Weiss, ein einzelkämpferischer Kulturmanager mit Nischengeschmack sei das richtige Kontrastprogramm sowohl zur Epoche Baumbauers als auch zur seriösen Modernität Ulrich Khuons im benachbarten Thalia-Theater, fühlte Stromberg sich berufen, das Stadttheater neu zu erfinden – und ignorierte alle Ratschläge erfahrener Mitarbeiter, dass das weder geht noch nötig ist. Er eröffnete seine erste Spielzeit mit dem miserablen Stück „Haltestelle. Geister.“ von Helmut Krausser in der hilflosen Regie von Jan Bosse, ließ Schnitzlers „Reigen“ von zehn verschiedenen Regisseuren und Performance-Gruppen verhackstücken, feierte in Jan Lauwers „Sturm“-Adaption minutenlanges Gitarren-Feedback als Avantgardetheater, ließ überforderte Jungregisseure und allein gelassene Schauspieler sofort im Stich, wenn ihre Arbeit nicht ankam, schmiss aber andererseits riesige Summen für Sebastian Hartmanns Ausstattungstheater zum Fenster raus, um die intellektuelle Leere von dessen Klassikerbearbeitungen zu übertünchen.

Als er so den kerngesunden Kunstbetrieb mit seiner antiquierten Elektroschocktherapie in einen traumatisierten Patienten verwandelt hatte, zwang er sich gerade noch rechtzeitig vor dem Kollaps zur Einsicht, dass bewährte Rezepte der Theaterpraxis vielleicht doch die gesündere Alternative seien. Ab der zweiten Spielzeit gab es mit Michael Eberth einen Chefdramaturgen, die Spielpläne zeigten plötzlich erstaunliche Ähnlichkeit mit der bewährten Normalität des Genres und vom Stromberg’schen Fünfjahresplan, nachdem am Performing-Arts-Wesen das deutsche Theater genesen solle, blieb kaum mehr was übrig. Etablierte Rebellen wie René Pollesch und Stefan Pucher markierten jetzt wieder die alte Grenze zwischen Freiem und Staatstheater, etablierte Außenseiter wie Jürgen Gosch rissen die Wand zum zeitgenössischen bürgerlichen Schauspiel wieder ein, und im Leerraum dazwischen produzierten die jungen Hausregisseure Jan Bosse und Sebastian Hartmann eine Menge vergängliches Zeug.

Nach drei Jahren Stocherkahnfahrt in einem unruhigen Seitenarm des Kunststroms, bei dem so ziemlich alles als Ballast über Bord ging, was als Behauptung einst geladen war (die Experimentierbühne Neues Cinema, die internationalen Stars der Performing-Arts-Szene, die neuen künstlerischen Formen, die unentdeckten Talente und das Theater als ganztägig geöffneter Ort transmedialer Inspiration), erreichte das Schauspielhaus zum Schluss als ganz gewöhnliches deutsches Theaterschiff wieder den Canal Grande. Eine Mischung aus Glück, Beharrlichkeit und Treue zu Künstlern, die gemeinsam mit ihm die Misserfolge durchgestanden haben, kulminierte in einigen Inszenierungen, die schließlich Strombergs Ruf als Intendant retteten.

Jan Bosse begeisterte in seiner „Faust“-Inszenierung das Publikum mit einer sehr unterhaltsamen Demontage des deutschen „Mythos Mann“ und schenkte der Kasse erstmals das Schild „Ausverkauft“. Stefan Pucher fand mit „Othello“ zu der scharfen Kombination von Intelligenz, Energie und Opulenz, mit der er wie wenige zeigen kann, dass Theater doch ein zeitgenössisches Medium ist. Auch Schorsch Kamerun, René Pollesch und Jürgen Gosch steuerten beachtenswerte Produktionen bei. Allerdings waren die Hauptrollen dieser Inszenierungen fast durchweg mit berühmten Gästen besetzt, was als Kommentar zu einer jahrelang verfehlten Ensemblepolitik die plötzliche Erfolgsbilanz doch noch mal in ein etwas kritischeres Licht taucht.

Dass Stromberg nun eine gemeinsame Firma ausgerechnet mit Peter Zadek gründet, der seit Jahren nichts anderes zu tun hat, als seinen eigenen künstlerischen Abstieg mit Hasstiraden gegen jene zu übertönen, die sich nun wirklich um die Fortentwicklung des Theaters verdient gemacht haben (Castorf, Marthaler, Jelinek und die erfolgreiche Regiegeneration der Dreißig- bis Vierzigjährigen), kann nun zweierlei heißen: Entweder ging es Stromberg nie ernstlich um Innovation im Theater, oder aber hier harmonieren zwei Giganten der gekränkten Eitelkeit hervorragend in ihrer Strategie der Selbstvermarktung. Man sollte auf ihrem gemeinsamen Landschloss im brandenburgischen Streckenthin ganz schnell einen talentierten Dramatiker einquartieren. Denn aus dieser Kombination sensibler Machos mit akuten Bescheidenheitsdefiziten wird sich zwangsläufig ein Drama shakespearschen Ausmaßes entwickeln, das der Nachwelt unbedingt überliefert werden sollte – damit die Haltung „Das Theater bin ich!“ endlich eine adäquate künstlerische Umsetzung erfährt.

24./25. Juni, letztes Wochenende der Spielzeit im Deutschen Schauspielhaus Hamburg