Mit feiner Sohle

Das noch junge Team vom AC Mailand trumpft auch in dieser Saison auf. Talente wie Rafael Leao und Brahim Diaz entwickeln sich weiter prächtig

Aus Mailand Tom Mustroph

Italiens Fußball erlebt zurzeit eine echte Renaissance. Der Wille zu mehr Spielkultur hat die Trainer gleich mehrerer Spitzenklubs ergriffen. Ob der SSC Neapel, der AC oder Inter Mailand: Die Serie A macht mittlerweile ästhetisch wieder etwas her. Sogar international können die Vereine standhalten. Alle drei sind im Achtelfinale der Champions League. Da gelten sie zwar noch als Underdogs. Das Potenzial zum Verblüffen haben aber alle drei.

Verrücktester Klub ist zurzeit der AC Mailand. Der wurde überraschend vergangene Saison Meister und auch jetzt liegt die junge Truppe – sieben der Stammspieler sind unter 25 Jahre – in Lauerstellung hinter Tabellenführer Napoli. In der Champions League, dem traditionellen Habitat der Rossoneri, sind sie ebenfalls gut dabei. Das Achtelfinallos am Montag (FC Tottenham) zauberte sogar manches Lächeln auf die Gesichter. Die hauseigene TV-Station ließ verkünden, dass es keinen besseren Gegner geben könne. Denn Tottenham wird von Antonio Conte geführt. Der wird mit seinen Teams zwar gern Meister. Mit der Champions League hat er es aber nicht so. Nur einmal erreichte er ein Viertelfinale.

Grund für gepflegten Optimismus in Mailand liefert vor allem die Entwicklung zahlreicher Talente. Ins Auge fällt mit seinen Dribblings vor allem der Portugiese Rafael Leao. Auch gegen Serie A-Kontrahenten La Spezia zeigte er am Samstag seine Künste. Gemeinsam mit dem technisch kaum minder begabten Brahim Diaz, der von Real Madrid zur weiteren Ausbildung nach Mailand kam, spielt er gern Sohlenfußball. Der Ball wird mit der Sohle gestreichelt, sanft weitergeschoben und durch gegnerische Beinpaare gesteckt, dass es eine Freude ist. Einziges Manko ist die mangelhafte Chancenausbeute.

Dafür steht im Sturmzentrum dann aber Oldie Olivier Giroud bereit. Der Weltmeister aus Frankreich sorgte am Samstag mit einer Energieleistung auch für die Erlösung. Milans Jungspunde hatten die Partie lange dominiert. Als dann aber ein anderer Jungspund des AC Mailand, der an Spezia verliehene Daniel Maldini, mit feinem Schuss den Ausgleich erzielte, war die Aufregung groß. Maldini stammt aus der berühmtesten Familiendynastie des Landes. Opa Cesare spielte schon für Milan, dessen Sohn Paolo wurde als eleganter Verteidiger zur Legende. Jetzt ist er Manager beim Verein, ist verantwortlich für all die Talente, die zum Klub kommen – und hat den eigenen Sohn Daniel nach Spezia gegeben, damit er dort den Platz zur Entwicklung hat, den er zu Hause für ihn nicht sieht.

Das zeugt von Weitsicht. Und von der Qualität des jüngsten Maldini zeugt eben auch das Tor. Dass der Samstag ein komplett glücklicher Tag für die Familie Maldini wurde – mit Torerfolg für den Sohn, volle Punktzahl aber für den Vater –, hatte sie allein Giroud zu verdanken. Der sorgte in der Nachspielzeit noch für den Siegtreffer. Und dann folgte, was mittlerweile typisch ist für den Emotionshaushalt dieses Klubs. Giroud vergaß im Jubel trotz aller 36 Lebensjahre, WM-Titel, Champions-League-Triumph und Europa-League-Erfolg, dass er sich zuvor schon eine gelbe Karte zugezogen hatte. Und so riss er sich im Überschwang des Glücksgefühls das Trikot vom Leib – und kassierte Rot. In den Katakomben weinte er dann bitterlich, berichteten Augenzeugen. Trainer Stefano Pioli wollte nicht schimpfen. „Was soll ich sagen? Ich kann die Emotionen nachvollziehen. Natürlich ist es bedauerlich, dass Oli sich nicht an die Verwarnung erinnert hat. Aber Fußball lebt von Emo­tio­nen. Und wir werden ihn am Dienstag gegen Cremonese auch gut ersetzen.“

Pioli weiß, dass er genau so etwas tolerieren muss, um Erfolg zu haben.