Sich lebendig fühlen

Im Mai 2021 kamen auf einen Schlag mehrere tausend Menschen aus Belarus nach Litauen. Sie suchten Asyl in der Europäischen Union. Das Regime des belarussischen Machthabers Lukaschenko hatte für die Fluchtroute geworben, als Druckmittel gegen die EU. Nach wie vor sind die meisten dieser Geflüchteten in litauischen Lagern eingesperrt. Einige von ihnen suchen eine Art Ausweg aus der Eintönigkeit, indem sie sich künstlerisch betätigen

Künstler Amir Fotos: Gabriela Ramirez

Aus Medininkai und Kybartai Gabriela Ramirez

Ich habe ihre Gemälde und Zeichnungen gesehen …“, sagt einer der Sicherheitsmänner, während er meine persönlichen Sachen durchsucht. „Wie die von Leonardo da Vinci.“ Wir sind in einem knallblauen Schiffscontainer in Medininkai, einem litauischen Dorf direkt an der Grenze zu Belarus. Hier steht eines der landesweit fünf Lager für Geflüchtete, in denen seit dem Sommer 2021 etwa 4.000 Menschen unter prekären Bedingungen untergebracht sind.

Der Security-Mitarbeiter spricht über Anna*, die Frau, die ich hier besuchen möchte. Anders als da Vinci benutzt Anna keine hölzerne Staffelei, um ihre Bilder beim Malen in der richtigen Position zu halten. Sondern den Stacheldrahtzaun, der das Lager, in dem sie seit elf Monaten lebt, von der Außenwelt trennt. „Es ist so traurig, dass so viele da Vincis hier inhaftiert sein müssen“, antworte ich dem Sicherheitsmann. Er nickt, während er wohl nach der richtigen Antwort sucht. Dann bricht er die Stille: „Das ist Politik. Es geht immer um Politik. Ich arbeite hier nur und befolge Anweisungen.“ Dann schaut er weiter in die Taschen, in denen ich Rahmen, Leinwände, Wasserfarben, Pinsel und andere Materialspenden ins Lager bringe. Eine Initiative namens Sienos Grupė hat sie eingesammelt. Sie unterstützt seit November 2021 die Mi­gran­t*in­nen.

Anna hat ein ansteckendes Lächeln. Sie sagt, sie könne sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal Besuch hatte. Manchmal dürfen Fremde sie wegen ihrer Kunst besuchen.

Ich spreche mit Ewa, Ewa engagiert sich bei Sienos Grupė. Anfangs wollte sie die Menschen, die über die litauisch-belarussische Grenze gekommen waren, einfach nur mit Essen und Kleidung unterstützen. Aber bald merkte sie, dass etwas anderes für die Geflüchteten im Camp wichtiger war als Nahrung: dass sie irgendjemand in diesem fremden Land als „gute Menschen“ wahrnahm. Ewa war verblüfft von ihrer Kunst, den schönen Zeichnungen und Gemälden und begann sie auf Facebook zu posten. Jetzt ist Ewas Facebook-Account so etwas wie eine Kunstausstellung aus dem Lager. Seither erreichen sie täglich Nachrichten, in denen es heißt: „Ich male auch. Kann ich dir meine Bilder mal zeigen?“ Ewas Posteingang entwickelte sich zu einer Anlaufstelle für bildende Künstler*innen, die ihre Arbeiten der Welt zeigen wollen, während sie selbst hinter Zäunen leben.

Daniel ist einer von ihnen. Er hat sich selbst einen Nachnamen gegeben: Español. Im Irak hat er als Übersetzer für die Nato gearbeitet, sagt er. Jetzt verbringt er seine Stunden damit, mit dem Bleistift realistische Porträts zu zeichnen. Steve Jobs, Papst Johannes Paul II.und Dalia Grybauskaitė, die ehemalige Präsidentin von Litauen, sind dabei. Aber er malt nicht nur bekannte Persönlichkeiten; für Daniel ist seine Kunst auch eine Möglichkeit, sich derer zu erinnern, die weit entfernt leben, während er festsitzt. Daniel lebt im Lager Kybartai, auf der anderen Seite des Landes, bei der Grenze zur russischen Oblast Kaliningrad. Offiziell heißt das Lager „Kybartai Foreigners Registration Center“. Es ist ein ehemaliges Gefängnis, das die litauische Regierung in ein „Ausländerzentrum“ umgewandelt hat. 450 Menschen sollen hier untergebracht werden können, schon im Dezember 2021 lebten hier 600. Die einzige wirkliche Veränderung ist der Name.

Noch immer sieht das Zentrum aus wie ein Gefängnis und fühlt sich auch so an: die vergitterten Fenster, die Mauern, der winzige Platz, in dessen Mitte ein einzelner Baum steht. Hier zeichnet Daniel jeden Monat ein Bild seiner Freundin. Elf Bilder sind es schon.

Daniels Arbeit ist markant und intim. Sie vermag es die Aufmerksamkeit je­der Pas­san­tin zu erregen, auch die der Wächter und des Küchenpersonals, die Daniel schon viele Male gebeten haben, ihre Kinder zu zeichnen, ihre Frauen, ihre Freunde. „Alles gratis“, sagt Daniel und lacht. „Nein, manchmal gratis, aber manchmal bezahlen sie mich auch“, korrigiert er sich.

„Wenn ich zeichne, bin ich in einer anderen Welt“

Amir, irakischer Bewohner im Lager Kybartai

Manche Kun­d*in­nen kommen auch von außerhalb des Lagers, aus ganz Litauen und Polen. Über die Sienos Grupė und ihre Social-Media-Accounts kommen sie miteinander in Kontakt. „Der einzige Grund, warum ich im Gefängnis nicht verrückt geworden bin, sind Papier und Stift“, sagt Daniel. Für ihn ist Kunst seine einzige Ressource, um sich lebendig zu fühlen, nützlich, produktiv trotz der Haft.

Viele der Künst­le­r*in­nen sagen mir, dass die Kunst sie befähigt hat, an ihre Talente und ihr Potenzial zu glauben, besonders nachdem ihre Werke Teil von Ausstellungen in Universitäten, Gemeinschaftszentren und Kulturzentren überall im Land wurden.

„In dieser Welt kann ich nichts zeichnen“, sagt Amir* aus dem Irak, „aber wenn ich zeichne, bin ich in einer anderen Welt.“ Seit er in Litauen ist, wurde er in in drei unterschiedlichen Camps untergebracht. „Dieses hier, Kybartai, ist das Paradies. Sie behandeln mich hier besser, weil sie meine Kunst sehen.“ Sein neues Zimmer hat ein kleines Fenster, sauber gestrichene Wände und mehr Platz für Leinwand und Utensilien. Hier verbringt er mindestens sieben Stunden pro Tag. „Ich kann hier nichts machen, also male ich“, sagt Amir.

Nichts zu tun haben, das ist die Wirklichkeit der meisten Asylsuchenden in Litauen, wo es zu wenige Integrationsprogramme für sie gibt und zu wenig Zugang zu Bildung oder beruflichen Tätigkeiten. Also stecken die Menschen ihre Fähigkeiten und ihre Motivation in Dinge, die ihre Situation besser machen sollen. Gemeinsam haben sie sich ein Sicherheitsnetz geknüpft.

Carla etwa musste ihre Ausbildung zur Krankenpflegerin in Kamerun wegen der kriegerischen Konflikte abbrechen. Jetzt unterrichtet sie andere Geflüchtete im Lager in Englisch, Französisch und Russisch. Amir ist eigentlich Mathelehrer. Jetzt will er mit 33 Jahren noch mal zur Schule gehen, „auf eine Kunstschule“. Er versucht, die Unsicherheit bezüglich seiner rechtlichen Situation mit Plänen zu bekämpfen.

Künstler Daniel

Im Juni 2021 versuchten über 4.000 Menschen den Wald zu durchqueren, der Litauen von Belarus trennt. Die meisten von ihnen waren jünger als 30 Jahre, sie kamen aus Syrien, Afghanistan, Irak und unterschiedlichen afrikanischen Ländern. Die litauische Grenzpolizei griff sie auf und brachte sie in die Ausländerzentren. Am 1. Juni 2021 hebelte Litauen das Asylrecht aus. Bis zu einem Jahr können Geflüchtete nun in den Lagern festgehalten werden, wenn sie die Grenze illegal übertreten haben. Nachdem Alexander Lukaschenko, der umstrittene Machthaber von Belarus, damit drohte, Litauen „mit Migranten und Drogen“ zu fluten, betrachtete die EU den Grenzübertritt der Menschen als einen Akt der Aggression.

„Die Europäische Union hat Litauen gezwungen, uns in Gefängnisse zu stecken, um Deutschland und Europa zu retten“, ist Amir überzeugt. Er versucht einen Sinn zu erkennen im politischen Spiel, das ihn nun schon seit fast einem Jahr hinter einem Zaun festhält. Auch an Daniel Español nagt die Ungewissheit: „Als Gefängnisinsasse weißt du wenigstens, wie lange du ins Gefängnis musst, aber hier haben wir keine Ahnung.“ Seit über einem Jahr wartet er darauf, dass das Land sein Asylgesuch abschließt. Mit ihm warten Tausende. Aber statt die Anträge zu bearbeiten, hat die litauische Regierung versucht, sie davon zu überzeugen, „freiwillig“ in ihre Heimat zurückzukehren – für eine Zahlung von 1.000 Euro.

Im August 2022 hat Litauen ein Großprojekt abgeschlossen: den Bau eines 550-Kilometer-Zauns an der Grenze zu Belarus. So sollen Flüchtende draußen gehalten werden. Die Künst­le­r*in­nen im Lager hingegen wollen einfach nur raus. Auch wenn das Lager eine Inspirationsquelle sein kann, machen sie noch immer Kunst hinter Gefängniszäunen.

*Namen von der Redaktion geändert

Dieser Text erschien zuerst auf dem internationalen Journalismus-Portal unbiasthenews.org. Übersetzt aus dem Englischen von Johannes Drosdowski