Umwelthistoriker über Videospiel: „Kompromisse aushandeln nötig“

Troy Vettese hat das Videospiel „Half Earth Socialism“ entwickelt. In diesem können Spie­le­r:in­nen die Weltwirtschaft klimagerecht und demokratisch planen.

Ein Screenshot eines Videospiels in düsteren Farben.

Eine Szene aus dem Videospiel „Half-Earth Socialism“ Foto: Half-Earth Socialism/Trust

taz: Herr Vettese, in Ihrem Videospiel „Half Earth Socialism“ wird man zur wirtschaftlichen Pla­ne­r:in. Ziel ist es, die Erderwärmung auf 1 Grad zu begrenzen, die Rate der aussterbenden Arten auf unter 20 Prozent zu bringen, und keine Treibhausgase auszustoßen. Wie lässt sich das schaffen?

Troy Vettese: Als Spie­le­r:in entwerfen Sie Fünfjahrespläne, in denen neue Technologien wie die Kernfusion entwickelt werden, es werden Infrastrukturen wie Fahrradwege oder Naturschutzgebiete erschaffen und politische Maßnahmen umgesetzt, wie die Einführung von Energiequoten. Es gibt Punkte, wenn Sie die Klima- und Biodiversitätskrise bewältigen und es gleichzeitig schaffen, den Lebensstandard hochzuhalten. Ansonsten verlieren Sie Ihren Job, weil Sie ihre demokratische Legitimation verlieren.

„Half Earth Socialism“ wurde von Trust entwickelt, einem in Berlin ansässigen Designnetzwerk. Bisher gibt es das Videospiel in englischer und portugiesischer Sprache. Eine spanische Version wird bald folgen und weitere Sprachen, so die Macher:innen, seien geplant. Kostenlos spielen kann man es unter https://play.half.earth.

Was ist der Unterschied zu einer realen Wirtschaftspolitik?

Die wirtschaftlichen Pläne im Spiel versuchen nicht den Markt zu imitieren und sich an einer einzigen Kennzahl wie Arbeitszeit, Energie oder CO2 zu orientieren. Es werden vielmehr verschiedene detaillierte Gesamtpläne erstellt. So entscheiden Spieler:innen, wie viel Land sie schützen, wie sie ihre Nahrungsmittel anbauen, wie sie ihre Energie produzieren und welche Energiequoten es geben sollte. Pro Planungsphase eruiert das ins Spiel integrierte Hector-Klimamodell, das auch der Weltklimarat verwendet, ob ein solcher Mix sozialökologisch umsetzbar ist. Wir wollen Spie­le­r:in­nen motivieren, solche Pläne zu entwickeln, um zu zeigen, dass eine Planung der Wirtschaft innerhalb der planetarischen Grenzen möglich ist.

Wie kam es zu der Idee?

Aus Frustration über die verkürzten Debatten, die wir über das Klima und die Wirtschaft führen. Ist es energetisch sinnvoll und sozial gerecht, ein E-Auto zu produzieren? Oder müssen wir die Ökosysteme schützen, aus denen Ressourcen für E-Mobilität extrahiert werden, um die Biodiversität zu erhalten? Erst wenn wir größere Zusammenhänge debattieren, können wir erkennen, welche Vision der Zukunft umsetzbar oder wünschenswert ist.

Gab es konkrete Vorbilder für Ihr Spiel?

Der Ende des 19. Jahrhunderts geborene Otto Neurath, ein brillanter, aber obskurer sozialistischer Philosoph, inspirierte uns. Er war Kriegsplaner für Österreich-Ungarn und später der zentrale Planer der Bayerischen Sowjetrepublik. Als diese 1919 zusammenbrach, wurde der Revolutionär zum Pädagogen. In Wien entwickelte er die grafische Darstellung Isotype: Anhand von Piktogrammen, also vereinfachten Abbildungen, konnte Neurath komplexe sozialökonomische Informationen vermitteln. Neurath wollte, dass die Wiener Arbeiterklasse versteht, wie die Wirtschaft funktioniert, damit sie sie kontrollieren kann. Er hatte die Vision, dass eine sozialistische Regierung verschiedene Pläne zur Wirtschaftsführung vorlegen würde, und die Menschen dann über diese abstimmen.

Sie zielen darauf ab, dass Biosphäre und Wirtschaft als zusammenhängendes Ganzes verstanden werden.

Genau. Dazu ist es unvermeidlich, Kompromisse auszuhandeln: Mehr Fleisch und eine hohe Aussterberate? Energiequoten oder mehr fossile Brennstoffe in Kombination mit Geoengineering? Unser Spiel soll diese Debatte in Gang setzen.

Das Spiel beginnt mit der Vision einer Welt, die den Kapitalismus überwunden hat. Ein notwendiger Schritt, um Klimakrise, soziale Ungleichheit und Biodiversitätsverlust zu bekämpfen?

Der Kapitalismus ist ein dezentralisiertes Wirtschaftssystem. Die Wirtschaft wächst tendenziell, weil neue Märkte erschlossen werden oder die Arbeit produktiver wird: Auf diese Weise macht das Kapital immer weitere Teile der natürlichen Welt zur Ware. Es ist schwierig, diesem Wachstum Grenzen zu setzen. Denn die Konkurrenz macht es nötig, ständig höhere Profitraten zu erwirtschaften. Da nur der Profit zählt, wird kaum in wenig profitable Branchen wie die erneuerbaren Energien investiert. Der Anteil der fossilen Brennstoffe an der Gesamtenergieerzeugung ist in fünfzig Jahren kaum gesunken, während der Anteil der Solar- und Windenergie von 0 Prozent auf nur 2 Prozent gestiegen ist – die Energiewende findet einfach nicht statt.

Es müssen also unrentable Entscheidungen getroffen werden.

Ja. Autofabriken, die Fleischproduktion und Infrastrukturen für fossile Brennstoffe müssen im Wert von Milliarden Dollar vernichtet werden. Das Agrarsystem wird sich drastisch ändern müssen, und wir werden viel mehr Naturschutzgebiete brauchen, um das sechste Massensterben zu verhindern. Der Kapitalismus kann keines dieser Ziele erreichen.

Ist Sozialismus die Lösung, auch wenn er historisch mit Autoritarismus verbunden ist?

Der Autoritarismus des Sozialismus ist eine Gefahr. Aber das ist er auch in kapitalistisch organisierten Gesellschaften. Im Sozialismus lässt sich durchsetzen, dass Menschen und nicht das Kapital entscheiden sollten, wo investiert wird und welche Sektoren schrumpfen sollen. Mit unserem Spiel wollen wir ein Werkzeug schaffen, mit dem jede Spie­le­r:in wissenschaftliche Utopien entwerfen kann. So können Bürger:innen, wie einst von Neurath gedacht, an der ökosozialistischen Demokratie teilhaben.

Was braucht der Ökosozialismus?

Stärkere Koalitionen mit Tier­be­freier:in­nen, Femi­nis­t:in­nen, De­ko­lo­nia­len Bewegungen und Um­welt­schüt­zer:in­nen. Deshalb wollten wir ein Multiplayer-Spiel entwickeln, bei dem Pla­ne­r:in­nen in Verhandlungen mit anderen Spie­le­r:in­nen einen global-wirtschaftlichen Plan erstellen. Das war aber zu kompliziert. Also haben wir ein globales Parlament geschaffen, in dem viele verschiedene Parteien vertreten sind, die Fraktionen innerhalb der Umwelt- und sozialistischen Bewegungen repräsentieren und über die Pläne abstimmen.

Neoliberale Wirt­schafts­wis­sen­schaft­le­r:in­nen halten Märkte für unplanbar. Stimmt das?

Ich mache mir keine Illusionen über die Planbarkeit der Weltwirtschaft. Neoliberalen Öko­no­m:in­nen entgegnen wir dennoch, dass aber die Natur noch komplexer ist als die Wirtschaft. Wir können nicht vorhersagen, was die Folgen des Geo-Engineerings sein werden, oder wie schlimm der Klimawandel werden wird. Wir sind von ökologischen Systemen abhängig, die wir nicht vollständig verstehen können, und deshalb ist es sinnvoll, dafür zu sorgen, dass die Natur genügend Raum hat, um mit e iner gewissen Stabilität zu funktionieren. Hier setzt der Ökosozialismus an.

In Ihrem Buch „Half Earth Socialism“ nennen Sie die Idee der „Halben Erde“ des Biologen E. O. Wilson als zentrale Idee für den Ökosozialismus. Demnach sollen 50 Prozent der Erdoberfläche der Natur überlassen werden. Warum ist mehr Platz wichtig?

Weil die Schnittstelle zwischen uns und dem Rest der Natur im letzten halben Jahrhundert größer geworden ist – vor allem seit der Einführung der Massentierhaltung in den 1960er Jahren. Wir brauchen riesige Flächen an Land, um so viele Tiere zu füttern, und bedrängen gleichzeitig Wildtiere, die zu Überträgern von Krankheiten wie dem Sars-CoV-2-Virus werden.

Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass die Massentierhaltung katastrophale Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit hat und mehr Naturschutzgebiete für den Seuchenschutz notwendig sind. Aber auch für den Ausbau von erneuerbaren Energiesystemen brauchen wir mehr Land als für die Erzeugung fossiler Brennstoffe. Schon jetzt führt kapitalistische Landnahme zu Neokolonialismus und Naturzerstörung. Deswegen ist es wichtig, eine gerechte und nachhaltige Landnutzung zu planen.

Wie wird Ihr Spiel bisher aufgenommen?

Bis jetzt wurde „Half Earth Socialism“ von etwa 80.000 Menschen gespielt! Das liegt wohl daran, dass das Spiel wissenschaftlich ist, ein ernsthaftes Problem behandelt und dennoch eine gehörige Portion Humor enthält. Auf der Onlineplattform Steam haben wir eine Bewertung von 9/10 Punkten erhalten. Das freut uns.

Und wer soll es Ihrem Wunsch nach spielen?

Vor allem junge Menschen, die sich für die Umweltkrise interessieren und gerne Videospiele spielen. Leh­re­r:in­nen und Pro­fes­so­r:in­nen können es auch als pädagogisches Mittel einsetzen, und älteren Menschen kann das Ausmaß der Umweltkrise nähergebracht werden.

Den Menschen das Ausmaß der Umweltkrise näherbringen – haben Sie nun, einige Monate nach der Veröffentlichung von „Half Earth Socialism“, das Gefühl, dass Ihr Spiel diesem Anspruch gerecht wird?

Was mich am meisten berührt hat, war der Bericht einer Schulklasse, die nach dem Spiel erschüttert war darüber, dass die Kluft zwischen dem Status quo und dem, was getan werden muss, um eine nachhaltige, gerechte Gesellschaft zu schaffen, so groß ist. Es ist natürlich wichtig, das Ausmaß der Krise zu verstehen und anzuerkennen. Hoffentlich kann unser Spiel aber auch dazu beitragen, jungen Menschen utopisches Denken beizubringen. Sonst versinken sie in Verzweiflung. Wir müssen lernen, uns vorzustellen, wie wir in einer sozialistischen Gesellschaft leben können, die von quantitativer Knappheit, aber einem qualitativ höheren Lebensstandard gekennzeichnet ist.

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