Autobiografie von Jarvis Cocker: Eine blaue Papp-Handtasche

Der englische Musiker Jarvis Cockers hat eine Autobiografie geschrieben. Darin fungiert Pop als Welterklärungsmaschine, auch für Thatchers Handtasche.

Jarvis Cocker trägt eine Brille mit schwarzem Rand und hat dunkelblonde lange Haare

Jarvis Cocker auf der Frankfurter Buchmesse 2022 Foto: Peter Hartenfels/imago

Oasis oder Blur? Diese Frage hat Ende des 20. Jahrhunderts den britpopinteressierten Teil der Menschheit für eine Viertelstunde beschäftigt. Die Antwort: Pulp.

Warum das noch heute die richtige Antwort auf die falsche Frage ist, warum Pulp noch heute interessant sind und warum die Unterscheidung zwischen gutem und bösem Pop noch immer politisch relevant ist – solche Fragen beantwortet Jarvis Cocker in seinem Buch „Good Pop, Bad Pop. Die Dinge meines Lebens“.

Die Dinge seines Lebens findet der Gründer und Erfinder von Pulp in einer Kammer auf dem Dachboden seiner Londoner Wohnung. Strickkrawatten, Kaugummipapier (Wrigleys Extra), ein Aufnäher vom Wigan Casino (Northern Soul!), ein gelb-weiß gepunktetes Acrylhemd (Goldstar), Schulhefte, Pornohefte, ein Kofferradio mit Skalenknopf (John Peel!), Einkaufstüten (Woolworth), Postkarten (Pauschalurlaub Ibiza), ein Stück Seife (Imperial Leather), Modellraumschiffe (der kleine Jarvis wollte im Weltraum leben), kaputte Brillen (Jarvis ist seeeehr kurzsichtig).

Die Fundsachen aus der Rumpelkammer lässt Cocker fotografieren und sortiert sie nach der Devise „Keep or cob“. Cob heißt wegschmeißen im Slang seiner Heimat, der (Ex-)Stahlstadt Sheffield. Pulp-Fans kennen Sheffield auch als „Sex City“.

Rhythmus der Fabrik

Im gleichnamigen Song erzählen Cocker und seine Bandpartnerin Candida Doyle von massenhaften Simultan-Orgasmen in Sozialbau-Hochhäusern, ein Relikt aus dem Fordismus, als der Rhythmus der Fabrik noch das Tun, Trachten und Treiben einer lebensweltlich homogenen Working Class durchgetaktet hat, Sexleben inklusive. Alle stehen zur selben Zeit auf, alle gehen zur selben Zeit ins Bett, alle Schlafzimmerfenster gehen zum Innenhof raus und stehen nachts offen, „and sometimes in the middle of the night, in that building it sounded like a mass orgy“.

Jarvis Cocker: „Good Pop, Bad Pop. Die Dinge meines Lebens“. Aus dem Englischen von Harriet Fricke & Ingo Herzke. Kiepen­heuer & Witsch, Köln 2022, 400 Seiten, 28 Euro

Zu jedem Dachbodenfund erzählt Cocker in „Good Pop, Bad Pop“ eine Geschichte. So entsteht ein autobiografisches Wimmelbild oder, mit Cocker: eine „Eigenarchäologie“. Hat der frankophile Brite an Foucaults „Ordnung der Dinge“ gedacht, Untertitel „Une archéologie des sciences humaines“? Selbst wenn, er würde es für sich behalten, könnte ja prätentiös wirken.

Schließlich soll weiter gelten, was Band-Biograf Owen Hatherley 2012 in „These Glory Days“ schrieb: „Pulp war die letzte große Band, deren Mitglieder sich ihrer Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse bewusst waren und sich gleichzeitig als Künstler verstanden.“

Mit seiner Eigenarchäologie illustriert Cocker in mitunter grotesken Anekdoten, wie kompliziert der Spagat zwischen Arbeiterklasse und Kunst in den 80er/90er Jahren war, und lässt zugleich durchblicken, dass Jahrzehnte nach Thatcher und New Labour nicht mehr so ungebrochen von der Arbeiterklasse geredet werden kann wie zu Zeiten von Sheffield Sex City. Mit den Gewerkschaften hat Thatcher auch den Fordismus pulverisiert.

Eine überwiegend weiße Facharbeiterschaft, prekär beschäftigte Workers of colour, unterbezahlte Frauen im Care-Sektor, Geflüchtete aus Syrien oder der Ukraine, deren Qualifikationen in Großbritannien nichts wert sind – aus derart heterogenen gesellschaftlichen Gruppen lässt sich keine Working Class konstruieren, die Zeit der nächtlichen Massen­orgien ist passé.

Ein Fall von Klassentourismus

Relativ überschaubar ist das Verhältnis von Klasse und Sex auch noch in Pulps größtem Hit von 1995. „Ich möchte mit normalen Leuten schlafen“, verkündet die blasierte Upper-Class-Protagonistin in „Common People“. Junge Frau aus besseren Kreisen gönnt sich Sex­urlaub mit gewöhnlichen Proleten. Ferien in anderer Leute Armut, ein Fall von Klassentourismus.

Mit Common People umgab sich auch Tony Blair gern, der pop-affine Premier von New Labour. Common People wie die Gallagher-Lads von Oasis, die bei Blairs Antrittsparty in Downing Street 10 ein paar Lines ziehen, ein Kippmoment der britischen (nicht nur Pop-)Geschichte, von Pulp festgehalten in „Cocaine Socialism“, ein historischer Augenblick, in dem Good Pop zu Bad Pop kippt.

Cocker inszeniert sich als enthusiastischer Pop-Liebhaber, der seine Lebenszeit am größten Pop-Phänomen ever bemisst: „Natürlich bin ich nicht der Einzige aus meiner Generation, der als Kind von den Beatles besessen war – keine Beatles, kein Br*tp*p. Wie hätte ich auch nicht von ihnen besessen sein können? ‚She Loves You‘ stand am Tag meiner Geburt auf Platz eins der Charts. Mein Vater zog 1970 bei uns aus, im selben Jahr, als sich die Beatles auflösten. In der Zeit dazwischen waren sie in meinem Leben präsent wie ein wohlmeinender Schatten. Um ein echter Fan zu sein, war ich noch zu jung – aber GESPÜRT habe ich sie trotzdem. Vielleicht wirkte der Zauber, den sie auf mich ausübten, dadurch noch stärker.“

Kribbeln erzeugen

Bei Cocker wird Pop wieder zu Kinderkram, im besten Sinn. Er erinnert sich, wie er 1969 zum ersten Mal „Where do you go to“ im Radio hört, einen Song des One-Hit-Wonders Peter Sarstedt. „Im Alter von fünf Jahren verstand ich nicht annähernd, was der Text von ‚Where Do You Go To, My Lovely?‘ bedeutete. Wer waren Marlene Dietrich & Zizi Jeanmaire? Wo war der Boulevard St. Michel oder Juan-les-Pins? & wie nippte man am Napoleon Brandy, ohne sich die Lippen nass zu machen? Aber auch wenn ich keine Ahnung hatte, worüber Peter Sarstedt da eigentlich sang, begriff ich doch etwas ganz Wichtiges an seinem Song: Er erzeugte das Kribbeln.“

Vermutlich keimt in diesem Kribbel-Moment in Klein-Jarvis der Wunsch, eine Band zu haben, Popstar zu werden. Fast von Geburt an sei er Popfan gewesen, als Teenager wollte er dann mitspielen. So erleben wir The Making Of Pulp. Jarvis erfindet buchstäblich die Band, lange bevor er ein Instrument besitzt, geschweige denn spielen kann.

In seinen Notizen entwirft er zunächst den Pulp-Look, er soll „Abscheu ausdrücken gegen die normale Welt“. Trashige Second-Hand-Klamotten, billiges Kunststoffzeug. „Die Pulp-Philosophie: Aus dem, was andere wegwerfen, etwas Neues machen. Heute nennt man das ‚Upcycling‘. Damals nannte man es ‚was Besseres können wir uns nicht leisten‘.“

Aus populär wird populistisch

Es folgt „The Pulp Masterplan“: mit konventionellen Songs Erfolge feiern, dann die Musikindustrie unterwandern. In Cockers Kopf nimmt also das Konzept Subversive Affirmation Gestalt an, bevor er auch nur einen Akkord hinkriegt. Und das Märchen vom Pop als Welterschließungs- & -erklärungsmaschine funktioniert. Bis der Bad Pop sein hässliches Haupt erhebt, als Cocker in der Rumpelkammer eine blaue Papp-Handtasche entdeckt. Die Nachbildung der Handtasche von Margaret Thatcher, „der Beginn des Zeitalters des Bad Pop“. Politiker missbrauchen Pop für ihre Zwecke, aus populär wird populistisch.

Mit „Good Pop, Bad Pop“ konserviert Cocker ein übersichtliches Weltbild: Wir gegen die. Er klammert sich an seinen fast kindlichen Glauben an die heilenden Kräfte des Pop. „Für mich bedeutet Pop, dass Kultur einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wird. Nehmen wir die Penguin Books, Taschenbücher, man konnte sich ein literarisches Werk kaufen für wenig Geld, Six Pence oder so. Das war eine Demokratisierung, eine Öffnung der Kultur für die Menschen. Heute passiert das Gegenteil. Der Zugang zur Kultur wird wieder erschwert.“

Gute Zeiten für bösen Pop also. Aber Jarvis Cocker lässt sich seinen Glauben an den guten Pop nicht nehmen und bewahrt Haltung. Eine Haltung, die man vielleicht nennen könnte: reflektierte Naivität. Nein, das ist kein Widerspruch.

Reflektiert naiv hält der bald Sechzigjährige hinter den dicken Gläsern die Augen offen für Good-Pop-Phänomene, Inputfutter für diverse Aktivitäten (Radio, Film, Soloplatten). Das Buch, die Eigenarchäologie auf dem Dachboden, endet mit den ersten kleinen Pulp-Erfolgen – und Thatcher. Somit bleiben uns andere, womöglich perfidere Inkarnationen des Bad Pop erspart. Schade eigentlich, gern hätte man gewusst, was Cocker heute zum Kokain-Sozialismus von New Labour zu sagen hat (den er anfangs unterstützte). Oder zum Kokain-Brexitismus der Smiths hörenden Eton-Bubis von Cameron über Johnson bis Rees-Mogg. Fortsetzung please.

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